Der Memory Code
Wahn?
15. KAPITEL
W ährend er in Tattis Auto wartete, hob Josh die Kamera ans Auge, spähte durch den Sucher. Er machte Aufnahmen von den Wäldern, die zur Rechten die Ausgrabung begrenzten und linkerhand den Hintergrund der gesamten Szenerie bildeten. Der Auslöser klang wie der Gruß eines alten Freundes in seinen Ohren.
Im Augenblick war sie ihm lieber, die Sicht der Welt aus der Perspektive dieses rechteckigen Rahmens, der alle überflüssigen Randereignisse ausblendete. Als Josh ein zweites Mal ansetzte, diesmal mit einer noch größeren Blende, fiel ihm in der vorderen Baumreihe eine Lücke auf, eine Art Schneise.
Als säße er nicht hier im Wagen, sondern stünde direkt zwischen den Bäumen, roch er den harzigen Kiefernduft, frisch und scharf, konnte gleichsam spüren, wie das schattenhafte Bläulich-Grün der Zypressen um ihn herum ins Schwingen geriet. Nein! Diesmal wollte er die Gegenwart nicht hinter sich lassen. Diesmal nicht!
Mühsam riss er sich los, kehrte gedanklich zurück zu dem Wagen, zu dem Metallgehäuse der Kamera in seiner Hand, zum schalen Mief von kaltem Zigarettenrauch.
Allem Anschein nach lösten Rom und seine Umgebung mehr Episoden aus, als Josh sie jemals in einem zusammenhängenden Zeitraum erlebt hatte. Was ging hier bloß vor?
Er konnte sich lebhaft vorstellen, was Malachai dazu sagen würde: dass Josh spirituelle Rückführungen in ein vorheriges Leben durchmachte. Josh hatte da seine Vorbehalte, obwohl sich die Erinnerungssprünge mittlerweile häuften. Logischer erschien ihm, dass Reinkarnation als eine Art Allheilmittel dienen sollte, als tröstliche Antwort auf unser existenzielles Dilemma, wenn wir uns fragen, wozu wir auf Erden wandeln und warum so viel Böses geschieht, auch guten Menschen. Reinkarnation als tröstlichen Mythos anzusehen fiel ihm eben leichter, denn sie als einen mysteriösen Glaubenssatz zu akzeptieren. Zu akzeptieren, dass der wesentliche Bestandteil eines lebenden Menschen – die Seele oder der Geist – über den Tod hinaus existierte und in einem neuen Körper wiedergeboren wird. Sodass der Mensch buchstäblich wieder zu Fleisch wird und auf die Erde zurückkehrt, um sein Karma, seine spirituelle Bestimmung zu erfüllen und das zu vollenden, woran er in seinem vorherigen Leben gescheitert war.
Dennoch: Wie ließen sich die Erinnerungssprünge anders erklären?
Josh hatte gelesen, dass selbst spontan erscheinende Vorlebenserfahrungen von etwas ganz Bestimmtem ausgelöst oder beschleunigt wurden: von Begegnungen mit einer Person, von einer Situation, von einer sensorischen Erfahrung wie einem bestimmten Geruch oder Geräusch oder Geschmack, die allesamt irgendeine Verbindung zu einer vorhergehenden Inkarnation beinhalteten.
In den vergangenen fünf Monaten hatte Josh nicht einen einzigen Flashback erlebt, dafür aber über fünfzig Bücher zum Thema Wiedergeburt verschlungen. In einem dieser Werke war er auf ein Zitat des Dalai Lama gestoßen, das ihm seitdem im Gedächtnis haften geblieben war. Der Dalai Lama war als Kind aus Dutzenden anderer Kinder auserwählt worden, weil man ihn für eine Reinkarnation eines früheren Dalai Lama hielt.
Das Zitat erklärte ein komplexes Gedankengebäude auf simple Weise. Wie nur weniges aus seiner Fachliteratur verhalf es Josh zu einer tröstlichen Erkenntnis: Sollte das, was da mit ihm geschah, in irgendeiner Hinsicht mit Wiedergeburt zu tun haben, so war es möglicherweise kein Fluch, sondern eine beneidenswerte Gabe.
Reinkarnation sei nicht ausschließlich eine altägyptische, hinduistische oder buddhistische Vorstellung, erklärte der Dalai Lama, sondern eine generell bereichernde Auffassung, untrennbar verwoben mit dem Gefüge der menschlichen Geschichte und Herkunft. Ein Beweis, wie er schrieb, für die Fähigkeit der Gedankenströme, Erkenntnisse über physische und psychische Aktivitäten zu gewinnen und zu behalten.
Eine bedeutsame Antwort auf schwierige Fragen.
Hier in Rom, davon war Josh überzeugt, ging etwas mit ihm vor. Unterschiedliche Epochen verflochten sich ineinander auf erstaunlich detailgetreue Art und Weise, und der Drang, sich diesem Phänomen zu überlassen und es zu erforschen, erwies sich als stärker denn je. Josh ließ die Kamera sinken und starrte über die freie Fläche zu der Schneise hinüber. Er konnte sich weiter gegen die Erinnerungssprünge wehren. Oder er konnte sich ihnen öffnen und abwarten, wohin sie ihn führten. Vielleicht gelangte er ja ans andere Ende des
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