Der Memory Code
warten. Als sie nach draußen gegangen war, war die schwarz gekleidete Gestalt verschwunden. Ringsum dehnte sich bloß die weite, schneebedeckte Fläche; eine Frau in einem roten Parka stapfte über den Campus.
Die Velinbögen enthielten Wegbeschreibungen zu fünf unterschiedlichen Stellen, allesamt möglicherweise archäologische Ausgrabungsstätten von historischer und spiritueller Tragweite, wie es in den Notizen hieß. Gabriella benötigte einige Tage, um sich zu vergewissern, dass sich die Stätten samt und sonders in Rom befanden. Danach kontaktierte sie ihren Mentor und Partner bei einer kürzlich erfolgten Ausgrabung in Salerno: Professor Aldo Rudolfo. Er zeigte sich gleichermaßen fasziniert. Natürlich kannte er die beschriebenen Gegenden und teilte Gabriella mit, dass man erst vor zwei Jahren dort ganz in der Nähe gegraben und nichts gefunden hatte.
Einige Wochen später schickte er ihr eine E-Mail mit der Nachricht, die besagten Stätten befänden sich auf Land, das den Nachkommen eines gegen Ende des 19. Jahrhunderts gestorbenen Archäologen gehöre. Er stehe mit den Eigentümern in Verhandlungen, so Rudolfo, und er hoffe, eine Grabungserlaubnis zu bekommen.
Es verging ein Jahr über der Sache, aber dann hatte Rudolfo doch einen Vertrag mit der Familie ausgearbeitet. Sie konnten sich endlich ans Werk machen.
Drang man zum Kern des Fundes vor, waren Spitzkelle und Handschaufel durch nichts zu ersetzen. Das mochte gewiss auch weiterhin gelten, doch die Benutzung modernerer Methoden wie Laser und Infrarotgeräte ermöglichten es Gabriella und dem Professor, die Grabungsstellen weit genauer zu lokalisieren, als es mit den herkömmlichen Mitteln möglich gewesen wäre. Die ersten beiden Grabungsversuche erbrachten keine signifikanten Ergebnisse, sondern nur ein paar Mauerreste oder antike Ton- und Glasscherben – typischer Abfall in einem alten Feld außerhalb der Stadtmauern.
Hier hingegen, bei Feld Nummer drei, hatte die Sache anders ausgesehen.
Der Professor öffnete die Schatulle, nahm einen spröde gewordenen Lederbeutel heraus und löste die Verschnürung. Das Geräusch, das Rudolfo ausstieß, als er den Strahl der Taschenlampe darauf richtete, war ein Zwischending aus Schrei und Ruf. “Schauen Sie nur, Gabriella! Gucken Sie doch, was Bella da hat! Vielleicht haben Sie das Geheimnis ja tatsächlich entdeckt.”
Nun, da der Professor mit einer Schusswunde sowie erheblichem Blutverlust im Krankenhaus lag und gegen eine lebensbedrohliche Infektion kämpfen musste, sah es so aus, als sei jemandem das Kleinod durchaus einen Mord wert gewesen.
23. KAPITEL
R om, Italien – Mittwoch, 15:10 Uhr
Die Ampel schaltete um auf Grün, eine Autohupe quäkte, und der Priester überquerte die Straße, vorbei an einer Reihe fliegender Händler, deren Auslagen er beim Vorbeigehen mit flüchtigen Blicken musterte. Falls er mit einem der Straßenverkäufer Blickkontakt aufnahm, dann nicht sichtbar für die Passanten, die dem übergewichtigen Geistlichen in mittleren Jahren zufällig begegneten. Knapp zwanzig Meter weiter, unweit der Piazza Barberini, stieg er schwer atmend die wenigen Stufen von der Via Veneto empor und betrat die düstere Kirche von Santa Maria della Concezione.
Keiner der Touristen in den Straßencafés auf der anderen Fahrbahnseite nahm von ihm Notiz, als er durch die hölzerne Pforte verschwand. Als Ziel der Pilgerströme war das Gotteshaus zwar nicht annähernd so populär wie der Vatikan oder das Pantheon und ließ sich mit Roms erhabenen und ruhmreichen Basiliken nicht vergleichen. Dafür stellte ein Besuch in der Krypta von Santa Maria della Concezione allerdings ein makaberes Abenteuer dar. Man konnte sich über einen Mangel an Besuchern nicht beklagen. Ein Kleriker darunter erregte keine besondere Aufmerksamkeit.
Es dauerte eine Weile, bis seine Augen sich nach dem strahlenden Nachmittagssonnenschein an das hier herrschende Halbdunkel gewöhnt hatten. Das Innere war dumpf und glanzlos bis auf das hoch über dem Kirchenschiff schwebende Goldkreuz. Nach einem Blick auf seine Armbanduhr trat der Priester ans Weihwasserbecken, tippte die Fingerspitzen hinein, bekreuzigte sich, ging dann den Mittelgang hinauf und kniete in einer der Kirchenbänke nieder, um einige Sekunden in stillem Gebet zu verharren. Zumindest hatte es den Anschein, als bete er.
In Wirklichkeit behielt er stets seine Uhr im Blick. Zur vollen Stunde begann die Führung. Schon merkte er, wie ihm das Herz in der Brust zu
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