Der Memory Code
Gelegenheit hatte Malachai eine Streichholzschachtel hervorgeholt und Josh um eine Münze gebeten. Obwohl dies ein merkwürdiges Ansinnen war, hatte er sich darauf eingelassen und Malachai einen Vierteldollar gereicht.
Malachai hatte das Geldstück mit spitzen Fingern entgegengenommen und einmal kurz damit unter die Tischplatte geklopft, was einen dumpfen Ton erzeugte. Dann hatte er das Klopfen wiederholt und Josh die flache Hand hingehalten: leer. Anschließend hatte er die Streichholzschachtel geöffnet. Die Münze steckte darin.
“Wie haben Sie denn das gemacht? Ich habe überhaupt nichts mitbekommen.”
“Genau das ist der Witz daran. Man weiß, dass man getäuscht wird, aber man guckt meist falsch hin und sieht daher nicht, wie es abläuft.”
“Wer hätte das gedacht!”, hatte Josh geflachst. “Der Leiter der Stiftung höchstpersönlich unterhält mich mit Zauberkunststückchen.”
“Was während meiner Kindheit – behauptet mein Vater zumindest – nutzloser Firlefanz war, das kommt mir jetzt zugute, und zwar bei den Kindern, mit denen wir arbeiten. Normalerweise würde es Stunden dauern, bis deren Verkrampfung sich legt, aber so kriege ich es in Minutenschnelle hin. Es hilft ihnen, sich mir zu öffnen. Ist ja auch nicht so einfach, wenn man einem wildfremden Menschen seine Albträume beschreiben soll. Auch nicht für Kinder, obwohl denen solche Zeitensprünge in ein Vorleben gar nicht so ungewöhnlich vorkommen.” Anschließend bat er Josh, ihm jene Episoden zu schildern, in denen viele Details vorkamen. “Gibt es eine Art Schema, nach dem die Geschichten ablaufen?”
“Müsste es das?”
“Nicht nach genauen Regeln, nein. Doch mitunter lassen sich bestimmte Abläufe feststellen, die durchaus bemerkenswert sind.”
Josh schüttelte den Kopf. “Nicht, dass ich wüsste.”
“Laufen sie chronologisch ab? Nach einer bestimmten Abfolge?”
“Sie handeln von Leben, die ich nie gelebt habe … Fantasien … Träumen … Ob sie eine Reihenfolge einhalten, kann ich nicht sagen.”
“Wie reagieren sie gefühlsmäßig darauf? Was geht nach so einem Zeitensprung in Ihnen vor?”
Josh rang nach Worten. Es war schwierig, einem Menschen, zumal einem ihm fremden, die überwältigende Trauer zu erklären, die er für jene Frau empfunden hatte, die er zwar nicht kannte, die er jedoch nach seiner festen Überzeugung im Stich gelassen hatte. “Ich bin Fotograf. Ich dokumentiere die Realität. Ich mache Aufnahmen von dem, was ich vor mir sehe. Mit Bildern, die sich nicht auf Film bannen lassen, kann ich nichts anfangen.”
“Verstehe ich vollkommen”, betonte Malachai. “Ich kann auch nachvollziehen, wie schwer das für Sie sein muss. Nur ein paar Fragen noch, wenn’s Ihnen recht ist.”
“Selbstverständlich. Ich bin Ihnen ja dankbar für Ihre Mühe … Nur …” Es tat wohl, akzeptiert zu werden, jemanden zu haben, der sich seine Geschichten zumindest anhörte, ohne gleich den Kopf zu schütteln und Josh anzugucken, als sei er nicht ganz bei Trost.
“Frustrierend. Ich weiß, Josh, es nervt. Können Sie mir einen Anhaltspunkt geben, wie lange die Episoden dauern?”
“Zwanzig, dreißig Sekunden. Eine ging mal über mehrere Minuten.”
“Können Sie sie selber auslösen?”
“Wie käme ich denn dazu?”, fragte er entgeistert und in einem solch entsetzten Tonfall, dass es Malachai ein Lächeln entlockte.
“Na gut, dann eben andersherum: Können Sie sie verhindern?”
“Manchmal. Zum Glück!”
“Und wenn sie erst einmal begonnen haben – können Sie sie dann anhalten?”
“Nicht immer. Nur unter Aufbietung aller Kräfte.”
“Aber Sie versuchen es?”
Josh bejahte nickend.
“Während eine Episode abläuft – fühlen Sie sich da körperlich oder seelisch unwohl? Können Sie beschreiben, was da in Ihnen vorgeht?”
Auch auf diese Frage wusste Josh keine Antwort. Er konnte keine Erklärung in Worte fassen.
Malachais Stimme nahm einen mitfühlenden Ton an. “Sie sehen mich an, als wäre ich ein durchgeknallter Chirurg, der mit dem Skalpell auf Sie losgeht. Tut mir leid, falls ich den Eindruck vermittele, als wollte ich Ihnen ein Loch in den Bauch fragen … Das ist bei uns reine Formsache.”
“Es ist, als wäre ich … als wäre ich außerhalb meines Körpers.” Josh hielt inne und sah an Malachai vorbei durchs Fenster hinüber zu den Bäumen im Park, die sich gerade unter heftigen Böen beugten. “Als würde ich mich von der Wirklichkeit abkoppeln und haltlos in eine
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