Der Memory Code
andere Dimension hinüberschweben.” Er sprach jedes Wort so aus, als schmecke es bitter, gleichsam vergiftet.
Der Junge am Nebentisch hatte die Streichhölzer säuberlich in der Schachtel verstaut und hielt diese Josh hin.
“
Prego”
, piepste er dabei. “Altra volta!”
Josh brauchte nicht lange zu raten. Er wusste, was der Kleine wollte.
Noch einmal. Noch einmal den Zaubertrick.
Er konnte es ihm nicht verdenken.
22. KAPITEL
G abriella saß an Rudolfos Krankenbett und beobachtete, wie der Mann, der ihr Mentor gewesen war, um jeden Atemzug kämpfte. Dass er auf einmal so zerbrechlich wirkte, wollte ihr nicht in den Kopf. Dabei waren sie noch vor zwei Tagen in der Ausgrabung gewesen, verschwitzt und mit schmutzverklebten Gesichtern, und hatten das getan, was ihrer Bestimmung entsprach. Nichts bewegte Gabriella so sehr wie das Freilegen der Toten und ihrer Geheimnisse – abgesehen vom Zusammensein mit ihrer knapp dreijährigen Tochter Quinn, die sie bei ihren wissenschaftlichen Auslandsaufenthalten schrecklich vermisste. Während der letzten Jahre hatte sich das Leben von Gabriella Chase grundlegend gewandelt. Dass sie dabei noch nicht verrückt geworden war, verdankte sie den Reisen zurück nach Rom, den Exkursionen zum Grabungsfeld vor den Mauern der Ewigen Stadt.
Nichts kam dem Augenblick einer Entdeckung gleich. Während dieser jüngsten Grabung hatte es davon etliche gegeben. Möglicherweise war es der stolzeste Moment in ihrer Laufbahn gewesen, als vor etwa drei Wochen der Professor neben ihr stand und mit angehaltenem Atem zusah, wie sie die erste dicke Staubschicht von dem rechteckigen Gegenstand in der Hand der Mumie wischte. Wie darunter eine hölzerne Schatulle zum Vorschein kam. Ein nochmaliges Abwischen enthüllte eine fein gearbeitete Schnitzerei.
“Ja, schau mal einer an”, hatte der Professor mit ehrfurchtsvoller Stimme geraunt. “Was haben wir denn da …” Er beäugte das Relief mit kritischem Blick. “Jawohl, das stellt einen Phönix dar.” Er meinte damit natürlich das Fabelwesen, den mythischen Vogel, welcher in zahllosen antiken Kulturen die Reinkarnation verkörperte.
Beide wechselten einen Blick. Sie kannten die auf die Herrschaft von Ramses III zurückgehende ägyptische Sage, wonach es eine Holzschatulle gab, ganz ähnlich dem gerade gemachten Fund. Der Legende nach enthielt diese Lade etliche Edelsteine und trug auf dem Deckel einen eingeschnitzten Phönix, den Hüter des Schatzes.
Weder Gabriella noch Rudolfo wagten laut auszusprechen, was ihnen durch den Kopf ging: Handelte es sich bei dem Fund um das besagte altägyptische Kleinod? Hier in Rom, in diesem Grab aus dem vierten Jahrhundert?
Geduldig hatte sie den restlichen Schmutz und Schutt aus den tiefen Rillen und Kerben des Kästchens gebürstet, obwohl ihr ganz und gar nicht nach Geduld zumute war. Normalerweise geht bei archäologischen Entdeckungen auch einiges zu Bruch, doch diesmal war das nicht der Fall – ein Novum in Gabriellas wissenschaftlicher Karriere. Im Gegenteil: Nichts an dieser Ausgrabung war in irgendeiner Weise symbolisch für bisherige Ergebnisse. Schon jetzt stand für Gabriella fest, dass es sich um einen bedeutsamen Fund handelte. Je nachdem, was sich in der Schatulle befand, könnte es der Wichtigste in ihrer Karriere sein.
Gewöhnlich dauert es Jahrzehnte, bis man eine Grabstelle entdeckt. Weder war diese Grabkammer in sich zusammengestürzt, noch hatte man andere Bauwerke darüber errichtet. Genau das war eines der Rätsel, die Gabriella und den Professor in Erstaunen versetzt hatten: wie unberührt die ganze Umgebung geblieben war, und dass es nach so vielen Jahrhunderten immer noch Winkel gab, selbst im Großraum von Metropolen, wo die Vergangenheit unmittelbar unter der Oberfläche ruhte.
Ausgrabungsstätten waren im Grunde immer ein Mysterium, aber diese hier erschien ihnen beiden rätselhafter als alle anderen. Das galt auch für die Art und Weise, wie sie auf die eigentliche Stelle gestoßen waren.
Es hatte geschneit an jenem Sonntag vor vier Jahren, und das altehrwürdige Universitätsgelände von Yale lag unter einer dicken weißen Decke. Während Gabriella über den verschneiten Kolleghof stapfte, war sie froh, dass sie sich schon so früh auf den Weg gemacht hatte. Es war nämlich ein stiller, strahlender Morgen. Ein perfekter Tag, fast zum Genießen.
Seit Kindertagen ging sie zum Gottesdienst in die Battell Chapel, die zum Campus gehörende Kapelle, in der ihre Mutter den
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