Der Memory Code
Chor der Beethoven-Gesellschaft geleitet hatte. Nach ihrem Tod war das neugotische Gotteshaus der einzige Ort, an dem Gabriella ihrer Mutter nahe war, an dem sie sie nicht gar so schmerzlich vermisste. Möglicherweise lag es daran, dass sie dort nie in Begleitung der Mutter gesessen hatte; vielleicht aber auch daran, dass ihr die Gnade Gottes dort etwas Frieden schenkte.
Die ungewöhnliche Akustik in der Kapelle damals, so las sie später in den
Yale News
, war das Resultat der mächtigen Schneedecke, die alle Außengeräusche dämpfte und gleichzeitig das Gebäude schallisolierte. Die Stimmen der Sängerinnen tönten wie Glockenklang, rein und kristallklar, und Gabriella war, als hallten die dröhnenden Orgelbässe nicht nur in den Basspfeifen wider, sondern als brächten sie ihren ganzen Körper zum Schwingen.
Der Schneefall hatte recht viele Leute vom Kirchgang abgehalten, und die Kapelle war demzufolge nur spärlich besetzt. Dennoch wäre Gabriella der in der Reihe vor ihr sitzende Geistliche wohl kaum sonderlich aufgefallen. Die Battell Chapel war häufig Anlaufstelle für den Klerus. Mal hielt ein Gast den Gottesdienst ab, mal kam ein Besucher zur Besichtigung, mal nur zum Beten, so wie der vor ihr sitzende Pater. Aus dem Rahmen fiel die Sache erst, weil er nach dem Gottesdienst, als Gabriella sich gerade den Mantel anzog, an sie herantrat und sie mit Namen ansprach. Sie war überrascht, dass er sie kannte, doch dann erklärte er ihr, er sei extra ihretwegen nach Yale gekommen. Der Kaplan habe ihn auf sie aufmerksam gemacht, als sie die Kapelle betrat.
Der Pater stellte sich ihr als Father Dougherty vor und fragte sie, ob sie ein paar Minuten Zeit für ihn erübrigen könne. Sie willigte ein, und so blieben sie in der Kapelle, nachdem der Rest der Gemeinde gegangen war.
Gabriella erinnerte sich noch daran, wie absolut lautlos es war; offenbar hatte der Schnee auch das Geräusch der Stille verändert. Sonnenstrahlen fielen durch Dutzende Buntglasfenster und warfen schillernde Edelsteinmuster über die Kirchenbänke sowie auch über den Pater und sie selbst.
Die Kapelle ist ein herrliches Bauwerk. Mit Schnitzereien verzierte Eiche dominiert die Decke und das Gestühl; die Wandpaneele sind mit kunstvollen Mustern bemalt. Das alles lenkte Gabriella so sehr ab, dass sie ihren Gesprächspartner gar nicht richtig angeschaut hatte, wie ihr später in der Rückschau klar wurde.
Er hatte ganz durchschnittlich ausgesehen. Fast schon zu alltäglich, wenn das überhaupt ging. Sein Alter war schwer zu schätzen – irgendwo zwischen fünfzig und siebzig. Er trug eine Nickelbrille, die Gläser entweder sehr dick oder leicht getönt, denn Gabriella wusste nicht mehr, was für eine Augenfarbe er hatte. Möglicherweise braun. Außerdem sprach er mit einem leichten Bostoner Akzent.
Er sei gekommen, so Father Dougherty, um ihr ein im späten 19. Jahrhundert verfasstes Dokument zu übergeben. “Es sind Blutflecken drauf, aber die kann man entfernen”, hatte er noch bemerkt, als er ihr den braunen Umschlag reichte.
Darin befanden sich etliche Bögen kostbares Velinpapier, beschrieben in einer krakeligen, schwer zu entziffernden Handschrift. Wegen des diffusen Lichts in der Kapelle dauerte es ein paar Sekunden, ehe Gabriella begriff, dass es sich um aus einem Heft gerissene Seiten handelte.
“Das Tagebuch, aus dem die Seiten stammen, ist sicher verwahrt”, erklärte der Pater. “Es befand sich im Besitz eines Gemeindemitgliedes, das es im Jahre 1880 während der Beichte seinem Seelsorger anvertraute. Wegen des Beichtgeheimnisses darf ich Ihnen nicht mehr verraten. Ich weiß, ich spreche in Rätseln, und ich bitte dafür um Verzeihung. Aber Sie müssen weder die ganze Geschichte kennen noch den Rest des Tagebuchs lesen. Die Blätter enthalten alles, was Sie brauchen.”
“Brauchen? Wofür?”
Mit zutiefst meditativer Miene starrte der Pater eine Weile schweigend in die Apsis. “Wenn das, was dort steht, der Wahrheit entspricht”, sagte er dann, “werden Sie berühmt.”
“Und Sie? Was haben Sie davon?”
“Ich bin lediglich der Bote. Dies alles geschah vor langer Zeit, doch nach Ansicht meines Bischofs dürfen wir diesen Teil des Gesamtdokuments nicht länger geheim halten.” Unvermutet erhob er sich und zog seinen Mantel über. “Lesen Sie es, Professor Chase. Tun Sie das Richtige.”
“Und was ist das Richtige?”
“Licht ins Dunkel zu bringen.”
Rasch verließ er die Kapelle, ohne auf Gabriella zu
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