Der Memory Code
verflossener Mann – der barmherzige Heiland mochte seiner Seele gnädig sein – hatten das Gebäude mit großem Aufwand renoviert. Da tat es ihr in der Seele weh, auch wenn’s im Grunde bloß eine Kleinigkeit war. Aber vielleicht schützte sie damit einen nationalen Kunstschatz, möglicherweise einen von großer Bedeutung für die Kirche und den Heiligen Stuhl. Stolz war eine Sünde. Sie würde, so Signora Volpes Vorsatz, am Sonntag wohl beichten müssen, dass sie ob einer solchen Bagatelle gezaudert hatte.
Sie zog einen Schuh aus, packte ihn fest und holte aus.
Sie brachte es nicht über sich.
Es musste sein.
Mit angehaltenem Atem und voller Wucht schmetterte sie den Schuh gegen die Scheibe des Fensters, das nach hinten zur Gasse hinausging. Krachend zersprang das Glas; mit einem Klirren und Klingeln, das Signora Volpe fast wie Glockengebimmel erschien, zerschellten die Scherben unten auf dem Pflaster. Das Geräusch verlieh ihr Mut, kam es doch einem Zeichen gleich. Der erste Teil war geschafft, doch nun folgte die viel schwierigere zweite Etappe. Eine leicht zu ersetzende Glasscheibe zu zerdeppern war keine große Sache, aber auf den hölzernen Fensterrahmen einzudreschen, bis er zersplitterte und auseinanderbrach, das lief auf ein hartes Stück Arbeit hinaus. Zu allem Überfluss musste sie sich dabei aus dem Fenster lehnen und von außen auf den Rahmen einhämmern, wobei sie tunlichst vermied, nach unten in die Gasse zu gucken, wo die Scherben im Mondlicht schimmerten.
Als sie fertig war, hätte man tatsächlich meinen können, Räuber seien von außen eingestiegen. Genau so sollte es aussehen, hatte der Commissario gesagt.
Auf ihre Frage, wozu der ganze Aufwand denn nötig sei, hatte er nur verschwörerisch den Finger über die Lippen gelegt. Er durfte keine ermittlungstaktischen Einzelheiten preisgeben. Anschließend hatte er ihr das Doppelte dessen zugesteckt, was der Einbau eines neuen Fensters vermutlich kostete, und ihr obendrein noch eine ansehnliche Erfolgsprämie für den Fall versprochen, dass sie das Gesuchte fände.
Camilla Volpe verdrängte den Gedanken daran, dass es sich um einen über hundert Jahre alten Holzrahmen handelte, der in seiner Art wohl schwer zu ersetzen war. Andererseits, so dachte sie, als sie den Plastikbeutel wie angewiesen durch die leere Fensterhöhle warf, tat sie ja nur ihre staatsbürgerliche Pflicht, indem sie den Ordnungshütern behilflich war. Was war schon ein altes Holzfenster gegen die Rettung eines kostbaren Kleinods? Oder des Freskos auf dem Foto? Das Schlimmste lag jedenfalls hinter ihr, und sie verließ die Wohnung mit dem Gefühl, der gerechten Sache zum Sieg verholfen haben.
Letzten Endes hatte sie ja ein selbstloses Opfer gebracht.
29. KAPITEL
J osh hörte den Schuss. Er sah das Blut. Er roch das Kordit. Er beobachtete, wie der Mann, den er als Täter aus der Grabkammer wiedererkannte, auf ihn zugetorkelt kam, die Augen bestürzt aufgerissen, die Lippen in einem stummen Schrei entblößt.
Der Tote kippte direkt auf den halb aufgerichteten Josh, wodurch der wieder zu Boden gedrückt wurde. Das Blut spritzte ihm auf die Kleidung und weichte sie durch; Blutgeruch drang ihm in die Nase.
Er hörte Schritte, hob mühsam den Kopf und nahm noch wahr, wie eine Gestalt, vermutlich der Todesschütze, rasch mit dem Rücken zu ihm im nachtschwarzen Dunkel untertauchte.
Was war passiert? Er konnte sich nicht an alles erinnern. Ach ja, doch, natürlich – er war aus der Gegenwart geradewegs in die Vergangenheit gerannt. In seine Vergangenheit. So sah es zumindest aus.
Josh blickte auf die Leiche des Mannes, der ihm nach dem Leben getrachtet hatte und nun selber tot war. Dann hob er den Blick, hinauf zum Himmel, empor zum Mond. Vor tausendsechshundert Jahren hatte derselbe Mond wahrscheinlich ebenso tief am Firmament gehangen, hatte dieselben Marmorbauten auf die gleiche Weise aufschimmern lassen, nur mit dem Unterschied, dass sie damals intakt gewesen waren. Gestirne leuchteten Millionen von Jahren. Was sich veränderte, waren die Menschen und ihre Werke, allesamt Durchreisende auf dieser Welt, vergänglich und nur von kurzer Dauer.
Schwankend rappelte er sich hoch und entfernte sich von der Leiche, von der Blutlache. Er musste zurück zum Hotel, um die Polizei zu alarmieren und ihr zu melden, wo der Erschossene lag. Zunächst aber brauchte er einen Ausweg aus diesem unaufhörlichen Wirrwarr, aus jenen Andenken an Menschen, die gelebt hatten und gestorben
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