Der Memory Code
Seite an Seite den Mittelgang des Gräberfeldes hinunter, vorbei an aufwendig gestalteten Denkmälern, die dort zu Ehren hervorragender römischer Bürger standen.
Sie wandelten unter den Verstorbenen. Jeden Abend taten sie dies, seit Jahren schon. Spät, wenn alles schlief, trafen sich Julius und Lucas am Eingang zum Marsfeld unweit des Tiber zu ihrem Spaziergang. In einer Phase, in der sich alles ringsum veränderte, hatte es etwas Tröstliches, an einem Orte zu weilen, der keinem Wandel je unterworfen war. Vor langer Zeit schon hatten sich diese Seelen auf Wanderschaft begeben; geblieben waren allein kalte, steinerne Monumente, den Lebenden zum Gedenken an diese Toten und deren Taten.
In der Vergangenheit zu verweilen fiel ihnen leichter, als sich mit der Zukunft zu beschäftigen. Genau das aber blieb den beiden Männern nicht erspart. Es war ihre Pflicht, ihr heiliger Auftrag. Nach einer Weile gelangten sie an das Mausoleum des Kaisers Augustus, wo sie wie immer innehielten, um zu Ehren des großen Staatsmannes in ehrfurchtsvollem Schweigen zu verharren.
Das mit weißem Travertin verkleidete Grabmal war ein architektonisches Wunderwerk, ein in die Höhe strebender Zylinder aus konzentrischen Mauerringen. Jeweils zwischen zwei Ringe war eine vollendet geformte Zypresse gepflanzt. Zwei ägyptische Obelisken hielten am Eingang Wache. Den Mittelpunkt bildete eine kreisrunde Grabkammer, in der sich auf einer Säule ein bronzener Augustus erhob, stark und mächtig in alle Ewigkeit. Im Inneren des Mausoleums befanden sich noch weitere Urnen, nicht nur jene, welche die Asche des Kaisers enthielten, sondern auch die von Freunden und Verwandten – irdische Überreste, von den Seelen zurückgelassen.
Ausgehend von dieser Stätte, erstreckten sich Alleen sternförmig hin zu Gärten und dem restlichen Gräberfeld. Jeden Abend schlugen Julius und Lucas bei ihren Wanderungen eine andere Richtung ein. Inzwischen kannten sie zwar jeden Weg und Steg, behielten ihr Wechselmuster indes trotzdem bei.
“Es gibt Kunde aus Mediolanum”, bemerkte Lucas über das Rauschen des Flusses hinweg.
Julius nickte und wartete schweigend ab, was sein Gefährte sonst noch zu sagen hatte. Nachricht aus Mailand verhieß nie Gutes. Er atmete tief durch, bemüht, sich wenigstens etwas an dem reinen Duft der immergrünen Stauden und Büsche zu erfreuen, die hier das Gelände zierten. Innerlich wappnete er sich jedoch schon gegen eine Hiobsbotschaft.
“Die Nachtluft ist Balsam für meinen Husten”, fuhr Lucas fort. “Es macht dir doch nichts aus, noch ein Stückchen zu laufen?”
Es war der übliche verschleierte Hinweis darauf, dass der Pontifex Maximus unerwünschte Lauscher befürchtete. In solchen Fällen redeten sie erst weiter, wenn sie den Tempel auf der Lichtung erreichten. Dort konnte sich niemand ungesehen anpirschen.
Hier hingegen standen die Bäume so dicht, dass Reden ein Risiko darstellte. Üppig belaubtes Geäst gab im Dunkeln ein hervorragendes Versteck ab. Es war für die Häscher des Kaisers ein Leichtes, hier zu lauern und in Erfahrung zu bringen, was die Pontifices im Schilde führten. So konnten sie deren Pläne im Nu vereiteln.
Im Augenblick aber waren sie für Beobachter nichts anderes als zwei Priester, die sich an einem abendlichen Spaziergang erfreuten, so wie sie es immer taten. Seit Jahren schon unternahmen sie diese späten Ausflüge, um über Religion und Politik zu diskutieren und die Probleme der Welt zu lösen. Nun, da dieser Welt jeglicher Anschein von Halt und Ordnung verloren ging, waren vertraute Rituale wie dieser Abendbummel umso tröstlicher.
Aus weiter Ferne hörten die beiden einen gellenden Schrei, gefolgt von Rufen. Forschend blickten sie hoch in den Nachthimmel, spähten suchend hinein in die Finsternis. Zunächst sahen sie nichts. Dann aber züngelten Flammen empor und färbten den Horizont gelblich-rot.
Irgendwo loderte also das nächste Inferno und verschlang seine mitternächtliche Beute. In jenem Sommer schienen die Brände in Rom besonders gefräßig zu sein; den Flammen fielen mehr Gebäude zum Opfer als in den vergangenen sechs Jahren zusammen. Nicht immer waren Brandstifter am Werk. Alles war Teil des Wandels. Die Menschen waren unzufrieden und verängstigt, weswegen die Männer dem Wein allzu oft zusprachen, und manche Hausfrau ließ beim Umgang mit dem Herdfeuer die notwendige Achtsamkeit vermissen. Kein Wunder, das da Feuer ausbrachen.
Nicht aber im Hause der Vestalinnen oder in
Weitere Kostenlose Bücher