Der Memory Code
Handeln bestand eine Möglichkeit, etwas sehr Kostbares zu bewahren, das für den Aufbau ihres Glaubens in anderen Gefilden unerlässlich war. Das galt auch für den Fall, dass sie ihre Religion eines Tages wieder in Rom einsetzen sollten.
Jeder heilige Schatz musste einem Priester oder einer Vestalin anvertraut werden, je nach Rang und Stellung. Diese sollten ihn dann zu gegebener Zeit aus der Stadt schmuggeln. Allein oder höchstens zu zweit unterwegs, sollten sie sich an einem vorher abgestimmten Ort weit außerhalb der Stadt treffen und von da an gemeinsam einen sicheren Unterschlupf ansteuern.
“Wem, meinst du, geben wir das Palladium?”, fragte Julius. “Es sollte ein Priester sein.” Das Standbild der Pallas Athene mit der erhobenen Lanze in der Rechten sowie mit Spindel und Spinnrock in der Linken war über drei Ellen hoch. “Für die Vestalinnen ist es zu schwer.”
Aus einem Holzstück geschnitzt, bemalt mit Farbe aus zerstoßenem Lapislazuli und Malachit, dazu mit Blattgold verziert, setzte das Kunstwerk jeden Betrachter in Erstaunen. Irgendwie war es dem Künstler gelungen, dem eigentlich leblosen Antlitz sowohl menschliche Züge als auch den Anschein von Kraft zu verleihen. Dies und ihre Geschichte machten die Statue zu einem Schatz von allergrößter historischer Bedeutung. Die so gewaltig wirkende Nachbildung war von Äneas aus Troja gerettet worden und sorgte der Sage nach für die Sicherheit Roms. Sie diente als Glücksbringer. Ohne ihren Reisesegen hätten die Abergläubischen unter den Priestern um den Erfolg ihres Vorhabens gefürchtet.
“Meiner Ansicht nach sollte Drago sie nehmen”, befand Lucas.
“Es wäre ihm eine Ehre.”
Als Nächstes bestimmte der Pontifex Maximus, wer die anderen beiden Holzfiguren transportieren sollte, mitsamt der Opfergabe für die Schutzgötter der Vorräte, die Penaten.
Bald darauf war alles durchgesprochen. Nur ein Kleinod fehlte noch, und es war gar keine Frage, dass Lucas höchstpersönlich dafür die Verantwortung übernehmen sollte. Allerdings fragte sich Julius nun, wieso sein Mentor ihm keines der Kultobjekte anvertraut hatte. Zwar ließ er sich seine Enttäuschung nicht anmerken, aber der Stachel saß tief. Warum hatte man ihn übergangen? Es fiel ihm nur ein einziger Grund ein.
Irgendwie musste Lucas von seinem Verhältnis mit Sabina erfahren haben. Vermutlich ging er davon aus, dass Julius nicht mehr lange zu leben haben würde, falls herauskam, dass er der Vater des Kindes war, das Sabina unter dem Herzen trug. Nach dem Gesetz musste der Mann, der einer Vestalin die Unschuld nahm, für diesen Frevel ebenfalls mit dem Tode büßen. Doch im Augenblick erschien Julius das Sterben abstrakt. Dass man ihm keinen der geheiligten Gegenstände anvertraut hatte, das hingegen betrachtete er als eine wahrhaftige Demütigung.
Den Blick zum Horizont gerichtet, bemerkte er bereits die erste zartgoldene Tönung der Morgenröte. Es war ihm klar, dass er sich kindisch verhielt, missachtete er doch in seiner verletzten Eitelkeit die enormen Probleme, welche die althergebrachte Lebensweise bedrohten. Da stand seine Welt vor einer Krise unvorstellbaren Ausmaßes, und er war eifersüchtig auf den eigenen Bruder und seine priesterlichen Mitbrüder, nur weil denen mehr Verantwortung zugesprochen wurde als ihm?
“Bald können wir den nächsten schwierigen Tag beginnen”, bemerkte Lucas mit einer Kopfbewegung in Richtung der Morgenröte. “Doch ist noch ein Schatz übrig.”
Im Penus Vestae, dem Allerheiligsten des Tempels und am besten bewachten Gemach im Hause der Vestalinnen, lag angeblich eine mit Schnitzereien verzierte Holzlade mit dem Schatz der Erinnerung darin unter dem Fußboden verborgen. Die genaue Stelle war ein Geheimnis, das durch die höchsten Priesterinnen und Priester von Generation zu Generation weitergereicht wurde. Nach so vielen Jahrhunderten indes hielten viele die Steine für bloße Legende.
“Du meinst, es gibt ihn wirklich?”
“Ich glaube schon. Welche Kräfte die Juwelen besitzen, entzieht sich meiner Kenntnis. Seit Jahrhunderten hat niemand sie zu Gesicht bekommen.”
“Aber du weißt, wo sie sind?”
Lucas lächelte. “Ich weiß, wo sie angeblich sein sollen. Die oberste Priesterin ebenso.”
Es hieß, der jeweils amtierende Pontifex Maximus habe nach jedem Brand – und deren hatte es viele gegeben – die Villa der Vestalinnen haargenau nach dem alten Grundriss wieder aufbauen lassen, sodass das Allerheiligste stets an
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