Der Memory Code
solle.
Das Hüten des Feuers war jedoch bloß ein Vorwand für den wahren Grund, aus dem Numa die beiden Frauen in ihr Amt einführte. Ihre eigentliche heilige Abmachung mit ihm besagte, dass sie nach seinem Tode die sagenumwobenen Juwelen bewachen sollten. Ferner verhängte er die Todesstrafe gegen jeden Mann, der einer Vestalin die Jungfräulichkeit raubte. Wenn er den Männern Furcht einflößte, hielt er sie gleichzeitig davon ab, in das Allerheiligste vorzudringen. Auf diese Weise blieben die Steine unangetastet.
Die Männer von den Frauen fernzuhalten war gut und schön. Die Weisung bot aber keine Gewähr dafür, dass die vestalischen Jungfrauen nicht umgekehrt männliche Wesen in ihre Gemächer einluden. Folglich erhob Numa nicht bloß die Jungfräulichkeit zum obersten Gebot, sondern verfügte zugleich, dass eine Vestalin, die ihr Keuschheitsgelübde brach, mit dem Tode durch langsames Ersticken bestraft werden solle.
Als letzte Vorkehrung, um die Sicherheit und Unantastbarkeit seines kostbaren Schatzes bis zu seiner Wiedergeburt zu gewährleisten, streute Numa noch das Gerücht, die Steine seien verflucht. Ein jeder, der auch nur nach ihnen forschte, werde mit einer schlimmen Plage geschlagen: Sich nämlich fortwährend an all das zu erinnern, was eigentlich vergessen sein sollte, und für den Rest seiner Tage von wachen Albträumen heimgesucht zu werden.
Selbst nach all den vielen Jahren lastete dieser Bann noch immer auf den Edelsteinen. Die Römer waren ein abergläubisches Völkchen. Kein Mann hatte bislang die Gemächer der Vestalinnen von innen gesehen. Sogar jene vestalischen Jungfrauen, welche wie Sabina gegen das Keuschheitsgelübde verstoßen und der Fleischeslust nachgegeben hatten, waren der Unzucht ja außerhalb des Atrium Vestae nachgegangen.
Nach Lage der Dinge waren also die Steine – sofern es sie tatsächlich gab – nach wie vor dort begraben.
Nunmehr blickte auch Lucas empor zum Himmel, an dem mehr und mehr das blasse Rötlichgelb und Hellblau des Morgens schimmerte.
“Wie lange sollen wir denn noch warten, bis wir untertauchen? Was meinst du?”
“Sieben, acht Wochen. Keinesfalls länger, wenn uns unser Leben lieb ist.”
Das reichte nah an das voraussichtliche Datum von Sabinas Niederkunft heran. Es wäre ein Wagnis, ausgerechnet dann aus der Stadt zu flüchten, wenn das Kind geboren werden sollte. Entweder mussten sie vorher aufbrechen oder ein Gutteil später.
Bald war es hell genug, um sich aus dem Schutz des Tempels herauszuwagen. In der noch verbleibenden Zeit, das wusste Julius wohl, musste er seinem Mentor und Freund die Wahrheit sagen. Bisher war es Sabina gelungen, ihr süßes Geheimnis unter den weiten Falten des Mantels, den sie inzwischen ständig trug, zu verbergen, doch es wurde von Tag zu Tag schwieriger. Falls sie mit Julius gemeinsam die Flucht wagen wollte, statt sich, wie eigentlich vorgesehen, im Hause ihrer Schwester zu verbergen, war er auf Lucas’ Hilfe angewiesen. Dann durfte man den Pontifex Maximus auf keinen Fall im Ungewissen lassen. Er hätte Anstoß daran genommen.
Ob er uns verstehen und schützen wird? Und wenn nicht, was dann? Ich darf keine Angst haben. Ich muss ihm vertrauen, das Wagnis eingehen und mich ihm offenbaren. Will ich Sabina retten, brauche ich Lucas’ Hilfe.
“So es bedeutet, Sabina zurückzulassen, kann ich nicht fliehen.”
Als Lucas eine ganze Weile stumm blieb, spürte Julius schon einen ersten Anflug von Furcht.
“Du bist mir wie ein Sohn. Ich kenne dich schon, seit du ein Kind warst. Dachtest du etwa, ich wüsste nicht von dir und Sabina?”
Julius war wie vor den Kopf geschlagen. “Warum hast du nie etwas gesagt?”
“Was hätte ich sagen sollen? Hättest du denn auf mich gehört?”
Fast hätte Julius geschmunzelt. Noch aber hatte Lucas nicht alles erfahren. “Ich kann nicht einfach die Stadt verlassen, wenn ich Sabina und das Kind bei mir habe und außerdem noch die Steine im Marschgepäck.”
Lucas nickte wie ein Angeklagter bei der Urteilsverkündung. “Das hat mir so manche Nacht den Schlaf geraubt vor Sorge”, bemerkte er, um dann wieder in nachdenkliches Schweigen zu verfallen. “Alles ringsum zerfällt in Scherben in diesen Wirren. Möglicherweise kann uns Sabinas Zustand zum Vorteil gereichen. Vielleicht können wir genau dadurch den Anschein erwecken, als befolgten wir die Regeln, obwohl wir sie in Wirklichkeit zerschlagen.”
Zum ersten Mal seit Monaten sah Julius so etwas wie einen
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