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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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Flanellnachthemd. Sie drückte ihn fester an sich.
    »Bist du schläfrig, Liebling?«, fragte sie.
    Ihre Stimme war so schwach, als käme sie bereits aus großer Ferne. Das Kind antwortete nicht, aber lächelte wohlig. Er fühlte sich sehr glücklich in dem großen, warmen Bett, in der sanften Umarmung. Er versuchte, sich so klein wie möglich zu machen, während er sich an seine Mutter kuschelte und sie schlaftrunken küsste. Dann schloss er die Augen und war im nächsten Augenblick fest eingeschlafen. Der Arzt trat näher und blieb neben dem Bett stehen.
    »Ach, nehmen Sie ihn mir noch nicht weg«, stöhnte sie.
    Ohne zu antworten, sah sie der Arzt ernst an. Sie wusste, dass sie das Kind nun nicht mehr lange würde behalten dürfen, und küsste es abermals. Dann fuhr sie mit der Hand über seinen Körper, bis sie zu den Füßen kam; sie nahm den rechten Fuß in die Hand und befühlte die fünf kleinen Zehen; dann ließ sie die Hand langsam über den linken gleiten. Sie schluchzte auf.
    »Was haben Sie denn?«, fragte der Arzt. »Sind Sie müde?«
    Sie schüttelte den Kopf, unfähig zu sprechen, und Tränen rollten über ihre Wangen. Der Arzt beugte sich zu ihr nieder.
    »Lassen Sie mich ihn nehmen.«
    Sie war zu schwach, um Widerstand zu leisten, und überließ ihm das Kind. Der Arzt übergab es dem Kindermädchen.
    »Legen Sie ihn wieder in sein Bett zurück.«
    »Gut, Herr Doktor.«
    Der kleine Junge wurde, immer noch schlafend, davongetragen. Seine Mutter schluchzte nun verzweifelt.
    »Was wird mit dem armen Kind geschehen?«
    Die Pflegerin bemühte sich, sie zu beruhigen, und die Kranke hörte nach einer Weile vor Erschöpfung auf zu weinen. Der Arzt ging zu einem Tisch auf der anderen Seite des Zimmers, auf dem unter einem Tuch der Körper eines totgeborenen Kindes lag. Er hob das Tuch auf und betrachtete es. Ein Wandschirm verbarg ihn, aber die Frau erriet, womit er beschäftigt war. »War es ein Mädchen oder ein Junge?«, flüsterte sie der Pflegerin zu.
    »Wieder ein Junge.«
    Die Frau antwortete nicht. Im nächsten Augenblick kam das Kindermädchen zurück und ging auf das Bett zu.
    »Master Philip ist nicht einmal aufgewacht«, sagte sie.
    Eine Pause folgte. Dann fühlte der Arzt noch einmal den Puls der Patientin. »Ich kann jetzt nichts weiter tun«, meinte er. »Nach dem Frühstück komme ich wieder.«
    »Ich bringe Sie zur Tür, Sir«, sagte das Kindermädchen.
    Sie gingen schweigend die Treppen hinab. In der Eingangshalle blieb der Doktor stehen.
    »Sie haben doch Mrs.   Careys Schwager verständigt, nicht wahr?«
    »Jawohl, Sir.«
    »Wissen Sie, wann er hier sein wird?«
    »Nein, Sir. Ich erwarte ein Telegramm.«
    »Und was machen wir mit dem Kleinen? Er sollte für eine Weile aus dem Haus.«
    »Miss Watkin hat gesagt, sie nimmt ihn zu sich, Herr Doktor.«
    »Wer ist Miss Watkin?«
    »Seine Patin, Sir. Glauben Sie, dass Mrs.   Carey davonkommen wird?«
    Der Arzt schüttelte den Kopf.
    2
     
    Eine Woche später. Philip saß auf dem Fußboden im Salon von Miss Watkins Haus in Onslow Garden. Als Einzelkind war er gewohnt, sich allein zu beschäftigen. Das Zimmer stand voll mit massiven Möbelstücken, und auf jedem der Sofas lagen drei große Kissen. Auch auf jedem Sessel lag ein Kissen. Er hatte sich alle genommen und sich mit Hilfe der vergoldeten Salonstühle, die leicht von ihrem Platz zu rücken waren, eine kunstvolle Höhle gebaut, in der er sich vor den hinter den Vorhängen lauernden Indianern verstecken konnte. Er legte sein Ohr auf den Boden und horchte auf die Büffelherden, die über die Prärie jagten. Mit einem Male hörte er, dass die Tür geöffnet wurde. Er hielt den Atem an, um nicht entdeckt zu werden. Aber eine starke Hand zog einen der Stühle weg, und die Kissen fielen herab.
    »Du unartiges Kind, Miss Watkin wird böse auf dich sein.«
    »Guten Tag, Emma«, sagte er.
    Das Kindermädchen beugte sich zu ihm nieder, küsste ihn und fing dann an, die Kissen aufzuschütteln und sie an ihren Platz zurückzulegen.
    »Darf ich wieder nach Hause?«, fragte er.
    »Ja, ich bin gekommen, um dich zu holen.«
    »Du hast ein neues Kleid an.«
    Man schrieb das Jahr 1885, und sie trug eine Turnüre. Ihr Kleid war aus schwarzem Samt, mit engen Ärmeln und abfallenden Schultern, und der Rock war mit drei breiten Volants verziert. Auf dem Kopf trug sie eine schwarze Haube mit Samtbändern. Sie zögerte. Die Frage, die sie erwartet hatte, kam nicht, und sie konnte ihm nicht die Antwort geben, die

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