Der Menschenraeuber
bildeten die Grundstücksgrenze und schützten vor den Blicken der Nachbarn. Jonathan bewegte sich vorsichtig dahinter, bis er die Gartenseite des Hauses im Blick hatte. Fast die gesamte Rückfront des geräumigen Bungalows war aus Glas, so hatte man von innen einen ungehinderten Blick in den Garten und konnte sich beinah fühlen, als säße man im Freien.
Da der Garten jetzt noch im Dunkeln lag, das Wohnzimmer jedoch hell erleuchtet war, hatte Jonathan uneingeschränkte Sicht in das Innere des Hauses. Gardinen gab es nicht, wahrscheinlich ließen sie nur nachts die Jalousien herunter. Ansonsten fühlten sie sich in ihrer Waldrandlage offenbar vollkommen unbeobachtet.
Ein Fehler, dachte Jonathan lächelnd.
»Liebling«, sagte Leonie. »Wir haben Post von einem Toten bekommen. Ist das nicht schrecklich? Vor zwei Tagen haben wir ihn beerdigt, und jetzt ist seine Karte im Briefkasten. Sie müssen sie gleich am Anfang ihres Urlaubs abgeschickt haben, und dann war sie sechzehn Tage unterwegs. Das finde ich richtig gruselig!«
»Lies mal vor. Ich kann Ingrids Schrift nicht lesen.«
»Ihr Lieben, es ist wunderschön hier, übertrifft alle unsere Erwartungen. Wetter, Essen und Laune sehr gut. Gestern waren wir auf einem mittelalterlichen Fest in Ambra. Es war toll, ganz märchenhaft, wie aus einer anderen Welt. Liebe Grüße, Ingrid und Engelbert.« Leonie sah Tobias an und hatte Tränen in den Augen. »Das ist echt makaber, finde ich.«
Tobias legte ihr den Arm um die Schulter. »Komm, wir machen uns was zu essen. Ich hab einen Mordshunger.«
Jonathan sah, dass sich am hinteren Ende des Wohnzimmers eine offene Küche mit einem langen Tresen befand. Tobias setzte sich und entkorkte eine Flasche Wein, Leonie arbeitete hinter dem Tresen, deckte den Tisch, holte Wurst, Käse, Oliven und andere Kleinigkeiten aus dem Kühlschrank, wusch das Gemüse und schob Tobias ein Brett und ein Messer zu, damit er den Salat schneiden konnte.
GEDULD! , mahnte die Stimme.
Jonathan wartete weiter ab.
Tobias schnitt den Salat fertig und stand auf. Er ging aus dem Zimmer, und Sekunden später ging Licht in einem ebenfalls vollkommen verglasten Raum direkt neben dem Wohnzimmer an.
Aha. Das war also Tobias’ Arbeitszimmer.
Jonathan machte sich Notizen und fertigte eine Skizze von dem Haus an, soweit er es sehen und sich vorstellen konnte. In Italien wollte er ein möglichst präzises Bild vor Augen haben, um dann in Ruhe planen zu können.
Tobias setzte sich an den Schreibtisch und öffnete die Post. Er las die Briefe durch, glättete sie und schob sie in eine Ablage. Sein Gesicht war dabei vollkommen emotionslos. Dann schaltete er seinen Computer ein und checkte seine E-Mails. Jedenfalls ging Jonathan davon aus.
Es dauerte keine fünf Minuten, und Tobias verließ den Schreibtisch wieder. Den Computer ließ er an, die Schreibtischlampe schaltete er aus. Jonathan sah den hellen Bildschirm im Dunkeln flackern.
Im Wohnzimmer schenkte Tobias den Wein ein. Jonathan konnte erkennen, dass Leonie nur einen winzigen Schluck zum Anstoßen im Glas hatte.
Brav, dachte er, pass gut auf dich und das Baby auf!
»Manchmal denke ich, ich würde mich wohler fühlen, wenn wir hier Gardinen vor den riesigen Fenstern hätten«, meinte Leonie, während sie den Salat aß. »Ich fühle mich wie auf dem Präsentierteller. Das ist ein ganz blödes Gefühl. Da draußen ist es duster, jeder kann uns beobachten und hat einen vollkommen freien Blick in unser helles Wohnzimmer!«
»Aber Schatz, da draußen ist doch keiner! Wer soll uns denn hier beobachten?! Hier kraucht doch kein Mensch in der Nacht rum, um uns in die Bude zu gucken!«
»Das weißt du doch gar nicht! Einbrecher gibt’s überall!«
»Na gut, dann liegen sie jetzt da draußen im Dreck und sehen, dass wir zu Hause sind und sie sich lieber ein anderes Haus zum Einbrechen suchen sollten.«
»Ja, schon, sie sehen aber auch ganz genau, was hier im Haus alles rumsteht und dass es sich lohnen würde. Und dann kommen sie ein anderes Mal wieder. Oder es sind die ganz schlimmen Typen, die sich noch nicht mal davon abhalten lassen, wenn jemand zu Hause ist.«
Tobias seufzte, stand auf, ging zur Terrassentür neben dem Kamin und schaltete die Gartenbeleuchtung an.
»Besser so? Jetzt kannst du genau sehen, dass da draußen niemand ist.«
Leonie nickte. »Etwas besser ist es. Aber ein bisschen Angst macht mir das Haus immer. Es ist einfach für jedermann viel zu einsehbar.«
Jonathan
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