Der Menschenraeuber
hatte sich unwillkürlich geduckt und einen halben Meter weiter zurückgezogen, denn er ahnte intuitiv, dass Tobias die Gartenbeleuchtung anmachen würde, als er aufstand und zur Tür ging. Wahrscheinlich hatte er Glück gehabt, die beiden hatten ihn nicht bemerkt.
Er robbte davon. Hatte genug gesehen. Und für alles Folgende alle Zeit der Welt.
Jonathan verließ das Grundstück, schlug sich noch ungefähr zwanzig Meter im schwachen Licht der Straßenbeleuchtung durch den Wald und ging dann auf der Straße zurück zu seinem Wagen.
Noch in dieser Nacht fuhr er zurück nach Berlin und startete dann morgens um sechs Richtung Italien.
Und die Stimme schwieg.
EINUNDDREISSIG
Nachdem Jonathan von der Beerdigung des Richters und dem kurzen Abstecher nach Buchholz zurückgekehrt war, legte sich der Sommer wie eine stickige, dumpf-schwüle Glocke über das Land. Grillen zirpten vom frühen Morgen bis spät in die Nacht, und wochenlang zeigte sich keine Wolke am Himmel. Sofia begann jeden Morgen um sechs, Blumen, Büsche und Bäume zu gießen, und war immer erst um neun damit fertig.
Gäste kamen und gingen. Interessante und langweilige, nette und nervige. Aber alle waren süchtig nach Sonne und Wärme, und je unerträglich heißer es wurde, umso zufriedener waren sie.
Im Oktober zogen schwere Gewitter über La Passerella, Blitze zerstörten die Brunnenpumpe und die Warmwassertherme, und sintflutartige Regenfälle spülten die ausgetrocknete Erde weg und zerschlugen die letzten Blüten an Geranien und Hortensien.
Es war an einem Freitag gegen zwölf. Jonathan arbeitete in der letzten Kurve vor der langen, geraden Auffahrt bis zum Haus. Er pflanzte eine Zypresse, denn die junge, die er im Frühjahr gesetzt hatte, war im langen Sommer vertrocknet, es hatte sich auch nie jemand die Mühe gemacht, die Gießkanne bis zur Kurve zu schleppen, um das Bäumchen zu wässern. Ein paarmal hatte er es dem Der-auf-der-Harke-schläft gesagt, aber Gianni hatte es wohl immer wieder vergessen beziehungsweise aus Bequemlichkeit vergessen wollen. Jetzt war die kleine Zypresse tot, und Jonathan hatte eine neue besorgt. Im feuchten Herbst hatte das Bäumchen eine bessere Überlebenschance.
Er sah den weißen Lieferwagen des Elektrikers den gegenüberliegenden Berg herunterkommen, ließ den Spaten stecken und rannte los. Bis zum Haus waren es ungefähr fünfhundert Meter, die leicht, aber stetig anstiegen. Vollkommen außer Atem und erschrocken darüber, dass er schlechter in Form war, als er dachte, erreichte er die Terrasse.
»Bitte, komm mit!«, sagte er keuchend zu Sofia. »Komm ins Haus!«
Sofia las in einem Buch mit Blindenschrift, ihre Finger tasteten über die Punkte, und sie hob den Kopf.
»Warum denn? Was ist denn los?«
»Das erkläre ich dir später.« Er nahm ihre Hand. Widerwillig stand sie auf, folgte ihm jedoch, als er sie ins Haus zog.
»Was soll denn das?«, fragte sie beinah trotzig, als sie ihm im Zimmer gegenüberstand.
Sanft fuhr er über ihre Wange. »Du wirst es vielleicht nicht verstehen, aber ich muss auf dich aufpassen. Du bist mir so unendlich wichtig, und es wäre furchtbar, wenn dir etwas passiert!«
Sofia warf den Kopf in den Nacken und atmete laut aus. »Was soll mir denn um Himmels willen geschehen, wenn ich auf der Terrasse sitze? Wirst du jetzt sonderbar, Jonathan?«
Jonathan reagierte nicht darauf.
»Liebst du mich, Sofia?«
»Aber natürlich!« Sofia spürte, dass ihr das Blut ins Gesicht schoss.
»Liebst du mich wirklich?«
Wie konnte er nur so etwas fragen. »Aber natürlich liebe ich dich, Jonathan! Mehr, als ich sagen kann. Ich habe doch nur dich in meinem Leben …«
»Gut«, sagte er ruhig und küsste sie aufs Haar. »Wenn du mich wirklich liebst, dann tu bitte, was ich will. Bleib im Haus, bis ich dir sage, dass du wieder herauskommen kannst.«
Er drehte sich um, ging aus der Wohnung und schloss die Tür hinter sich ab.
Sofia sank in einen Sessel. Sie wollte ja alles tun, was er wollte, aber sie verstand ihn nicht. Und in letzter Zeit machte er ihr immer häufiger Angst.
In den darauffolgenden Wochen begann Jonathan, Sofia konsequent von der Außenwelt abzuschotten. Wenn Handwerker kamen, sperrte er sie ins Haus, er nahm sie nicht mehr zum Einkaufen mit, sondern notierte sich ihre Wünsche und kaufte das, was sie haben wollte.
»Irgendwann wird diese Zeit vorbei sein«, sagte er lapidar, »und vielleicht wirst du eines Tages einsehen, dass dies alles gut und richtig
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