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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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man über eine Sache schon hundertmal nachgedacht hatte. »Er hat ein einziges Mal mit mir geschlafen. Sechs Wochen nachdem er hier in Italien angekommen war. Dann nie wieder. Zuerst dachte ich, er will nur nicht vor der Hochzeit – aber dann ist es so geblieben.«
    Don Lorenzo war fassungslos. »Auch nicht in der Hochzeitsnacht?«
    »Auch nicht in der Hochzeitsnacht.« In Sofias Augen schwammen Tränen.
    »Kind! – Porcamiseria!« Der Fluch war ihm so herausgerutscht, und er ging schnell darüber hinweg. »Was soll denn das?« Don Lorenzo wusste nicht, was er sagen sollte. Wenn Sofia ihm ihr Leid geklagt hätte, dass er sie keine Nacht in Ruhe ließ oder dass sie verzweifelt war, weil sie nicht schwanger wurde – das alles hätte er verstanden, aber doch nicht so etwas! Sofia war jung, Sofia war schön, und an ihrer Blindheit hatte sich Jonathan noch nie gestört.
    »Da gibt es absolut keinen Grund«, murmelte Don Lorenzo, »ich verstehe die Welt nicht mehr. Hast du es denn versucht?«
    »Immer wieder.«
    »Hast du mit ihm darüber geredet?«
    »Ich hab ihn oft gefragt. Aber er hat mir nie geantwortet.«
    »Dann muss er krank sein.«
    »Nein, das ist er nicht. Das weiß ich.«
    Don Lorenzo spürte, wie ihm die Galle hochkam. Wenn er hier wäre, würde ich ihn mir vorknöpfen, dachte er, was bildet der Kerl sich denn ein? Bekommt die schönste Frau der Welt und lässt sie links liegen?
    »Es ist nicht so, dass ich generell unglücklich bin«, erklärte Sofia, »oder frustriert. Das ganz bestimmt nicht. Mein Leben ist so viel schöner geworden mit ihm. Es ist besser als vorher, und ich bin ihm sehr dankbar.«
    Don Lorenzo pfiff kaum hörbar durch die Zähne.
    »Ich bin nicht mehr allein«, sprach sie weiter, »er ist zärtlich zu mir. So unendlich zärtlich, das können Sie sich nicht vorstellen!«
    »Hm.«
    »Er ist immer bei mir, er beschützt mich, er umsorgt mich, wo er nur kann, wir fahren zusammen weg, gehen spazieren und reden viel. Stundenlang abends am Kamin. Und dann schlafe ich in seinen Armen ein. Das ist wunderbar, und ich möchte nie mehr ohne ihn sein. Aber – so bekommt man kein Kind.« Jetzt weinte Sofia. »Und ein Kind ist mein allergrößter Wunsch!«
    »Weiß er das?«
    Sofia nickte. »Ich habe gebettelt, habe ihn angefleht, aber es hat nichts genutzt.«
    »Was für ein sciocco«, murmelte er, was so viel hieß wie: was für ein Dummkopf, denn er konnte diesen Deutschen auf La Passerella überhaupt nicht verstehen. Was sollte er diesem armen Menschenkind denn jetzt raten?
    »So etwas gibt es ja gar nicht«, flüsterte er, »außer im Kloster.« Und auch da war er sich gar nicht so sicher, ob es stimmte, was er sagte.
    »Sofia«, sagte er schließlich, »ich kann dir in diesem Fall nicht raten. Ich weiß auch keinen Ausweg. Aber der Herr wird eine Lösung finden. Da bin ich ganz sicher. Bitte ihn darum! Bete! Flehe ihn an! Und wenn du fest daran glaubst, dann wird auch ein Wunder geschehen. Der Herr lässt dich nicht im Stich!«
    Es entstand eine quälend lange Pause. Keiner sagte ein Wort.
    Schließlich hauchte Sofia so leise, dass er sie kaum verstand: »Danke, Don Lorenzo, grazie, per tutto. Sie haben mir sehr geholfen.«
    Damit verließ sie den Beichtstuhl. Ihre Schritte hallten in der leeren Kirche und dröhnten in Don Lorenzos Schädel.
    Was bin ich für ein armseliger Seelsorger, dachte er, Sofia hat ein existenzielles Problem, und mir fällt nichts weiter ein, als sie zum Gebet zu verdonnern und ihre Hoffnung zu schüren.
    Er schüttelte sich und merkte, dass er jetzt noch stärker fror als zuvor.
    Als das Angelusläuten einsetzte und die Kirche unter dem Glockenklang, der bis weit ins Tal zu hören war, zu beben schien, ging er hinaus, schloss die schwere Kirchentür sorgfältig ab und fühlte sich so erbärmlich, so armselig wie eine Spinne, die in einem Geschirrschrank ihre Netze webt, wohl wissend, dass sich dorthin nie eine Fliege verirren wird.
     
    Als Sofia auf die Straße trat, fühlte sie sich weder erleichtert noch getröstet. Gebetet hatte sie in den letzten Jahren schon genug. Ununterbrochen. Bei jeder Umarmung Jonathans hatte sie ein Stoßgebet zum Himmel geschickt – aber es war immer vergebens.
    Manchmal träumte sie von einem anderen Mann, einem Fremden. Nur für eine Nacht. Oder nur für eine Stunde. Einem, den sie nicht kannte und nicht liebte, aber der ihren größten Wunsch erfüllte.
    Das hatte sie sich nicht getraut, Don Lorenzo zu beichten, obwohl es sicher eine

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