Der Menschenraeuber
Sünde war.
Jonathan, dachte sie, verflucht nochmal, Jonathan.
DREISSIG
Die Beerdigung von Dr. Engelbert Kerner war zwei Tage her, und die Telefonate mit Sofia gestalteten sich immer noch als sehr schwierig. Sie war schweigsam und verschlossen, und auch Jonathan musste feststellen, dass er – wenn es um private Dinge ging – zum Telefonieren so gar kein Talent hatte.
»Wie geht es dir?« So begann fast jedes Gespräch.
»Gut.«
»Gibt es was Neues?«
»Nein. Nichts.«
»Was macht Amanda?«
»Das weißt du doch!«
»Und du? Was machst du den ganzen Tag?«
»Ich warte auf dich. Gestern war ich spazieren. Aber es macht keinen Spaß allein.«
Das war der Punkt, an dem ihm meist nichts mehr einfiel. Er wollte ihr sagen, wie sehr er sie vermisste – aber er konnte es nicht. Es erschien ihm so absurd, wenn sie ihm nicht nahe, sondern eintausendfünfhundert Kilometer entfernt war.
»Wann kommst du wieder?«
»Bald. Ganz bestimmt. In ein paar Tagen. Ich brauche noch etwas Zeit.«
»Wofür?«
»Ich hab dir doch schon gesagt, dass meine Cousine krank ist, Sofia, ich muss mich noch ein paar Tage um sie kümmern, sie hat doch nur mich! Und jetzt schlaf, meine Liebe, und träum was Schönes!«
»Ja. Ich liebe dich!« Damit beendete Sofia jedes Gespräch und legte auf. Sie gab ihm keine Chance, »ich liebe dich auch« zu sagen.
Seinen Wagen mit dem italienischen Kennzeichen ließ er in Wilmersdorf vor der Pension stehen und nahm sich bei einer kleinen, unbekannten Firma, die nur zwei Straßen weiter ihr Büro hatte, einen Mietwagen. Er bekam einen Golf, der bestimmt schon zehn Jahre alt war und dem man auch anmerkte, dass er jahrelang von unterschiedlichen Fahrern gequält worden war.
Gegen fünfzehn Uhr erreichte er Buchholz in der Nordheide. An einer Tankstelle fragte er nach der Adresse, aber der Tankwart schüttelte nur den Kopf. Semmeringweg? Den Straßennamen hatte er noch nie gehört.
Jonathan fragte sich weiter durch. Endlich kam einer Hausfrau mit zwei kleinen Kindern der Name bekannt vor, und sie schickte ihn auf die Buchholzer Landstraße Richtung Holm.
»Fahren Sie immer geradeaus. Zwei oder drei Kilometer, bis zu einem kleinen Kiosk. Daneben ist eine Bushaltestelle. Direkt hinter der Bushaltestelle biegen Sie rechts ab, und die erste oder zweite Querstraße müsste dann eigentlich der Semmeringweg sein.«
Jonathan bedankte sich, fuhr los und fand das Haus nach der Beschreibung der Frau auf Anhieb.
Kein Auto stand vor der Tür. Eine Garage sah er nicht, nur einen Carport, und der war leer. Im Schritttempo fuhr er an dem Bungalow vorbei, wagte es aber nicht anzuhalten.
Das Haus Nummer 25 lag am Ende der Straße. Es war vollkommen eingewachsen, umgeben von hohen Tannen und wild wuchernden Büschen. Der Gartenpforte direkt gegenüber begann dichter Wald mit altem Baumbestand und undurchdringlichem Unterholz. Vor diesem Grundstück, am Ende der Sackgasse, konnte niemand unbemerkt parken oder vorbeispazieren.
Jonathan wendete und hielt in der Nähe des Kiosks. Dann ging er zu Fuß noch einmal zurück, nahm aber den unbequemen Weg durch den Wald und bewegte sich mühsam parallel zur Straße.
Er zerriss sich die Hose, als er sich im Brombeergestrüpp verhedderte, zerkratzte sich die Arme und trat sich einen Weißdornsplitter in den Fuß, bis er nach fünfzehn Minuten das Haus wieder erreicht hatte. Vom Dickicht geschützt, hatte er einen guten Blick auf den Eingang und die gesamte Rückfront des Flachdachbungalows und war sich ziemlich sicher, vom Innern des Hauses aus nicht gesehen zu werden. Zumal Tobias und Leonie auch niemanden im Wald vermuteten, der sie beobachtete.
Um achtzehn Uhr dreißig kam Leonie nach Hause. Mit Schwung fuhr sie in die Auffahrt und schleuderte fast ungebremst in den Carport. Das zeugte von hundertfacher Übung. Dann sprang sie aus dem Auto und lief ins Haus. Die Haustür, die Jonathan aus seinem Versteck nicht sehen konnte, flog zu. Er hörte das Schloss einschnappen.
Eine Stunde später kam Tobias. Er parkte in der Einfahrt, nahm eine Einkaufstüte aus dem Wagen und ging ins Haus. Ruhig und langsam. Kurz darauf ging die Außenbeleuchtung des Hauses an.
Jonathan wartete zehn Minuten. Dann wagte er sich in den Garten. Das Grundstück war nicht eingezäunt, so hatte er leichten Zugang. Noch war auch die Gartenbeleuchtung nicht eingeschaltet, aber er musste vorsichtig sein und damit rechnen, dass sie jeden Moment anging und er im Licht stand.
Dichte, hohe Büsche
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