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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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er. Und ihm fiel ein, dass er noch das abgestorbene Holz aus dem Wald holen und die Erika auf dem Südhang in Richtung Berardenga schlagen musste. Das waren drei Hektar, und die brauchten ihre Zeit. Bis März musste er fertig sein, denn er wollte noch einen neuen Weinberg anlegen und die Oliven beschneiden. Dreihundert Bäume. Eine Heidenarbeit.
    Er grinste, als ihm die Bedeutung dieses Wortes einfiel. Er war ein Gottesmann und hatte ständig eine »Heidenarbeit«. Aber anstatt im Wald zu schuften und wenigstens das eine oder andere zu erledigen, was ihn immer mit tiefer Befriedigung erfüllte, saß er hier dumm rum.
    Er hielt seine Armbanduhr dicht vor die Augen und versuchte im Dunkeln das Ziffernblatt zu erkennen. Noch eine Viertelstunde.
    Oh Herr, ich gehe, betete er. Ich halt’s nicht mehr aus, es nervt mich. Es kommt ja doch keiner. Ich schließe jetzt die Kirche ab und nehme ein heißes Bad. Dieser wöchentliche Beichttermin in dieser eisigen Kirche war keine gute Idee von dir, wenn ich das sagen darf.
    Don Lorenzo wollte gerade die Stola ablegen, als er die Kirchentür knarren hörte. Er verkniff sich innerlich einen deftigen Fluch, seufzte und verharrte auf seinem hölzernen Schemel. Dass Gott auf seine Kritik so schnell reagiert hatte, wunderte ihn wirklich.
    Bereits als sie den Beichtstuhl betrat, spürte er, wie zart und jung sie war. Das war ungewöhnlich. Er konnte sich kaum erinnern, wann das letzte Mal ein junger Mensch zur Beichte gekommen war.
    »Salve«, flüsterte sie.
    »Der Herr sei mit dir«, entgegnete er, und sie antwortete: »Und mit deinem Geiste.«
    Sie hatte ein wollenes Tuch über dem Haar und hielt die Augen geschlossen. Ihre Schönheit blieb ihm dennoch und auch in der fast völligen Dunkelheit nicht verborgen.
    »Sprich«, begann er, »womit ist deine Seele belastet?«
    »Ich bin nicht gekommen, um zu beichten«, sagte sie leise und zögernd, »ich bin gekommen, weil ich keinen einzigen Menschen auf dieser Welt habe, mit dem ich reden kann.«
    »Aber du bist jung. Hast du keine Freunde?«
    »Nein.«
    »Einen Mann?«
    »Ja. Sie selbst haben mich vor vier Jahren getraut. Es war eine sehr schöne Hochzeit.«
    Allmählich wurde ihm klar, wer da vor ihm saß. Die blinde Braut mit der unverschämten Mutter von La Passerella. Sofia. Nie im Leben würde er diese Hochzeit vergessen.
    »Warum redest du nicht mit deinem Mann?«
    »Er ist ein Teil des Problems. Oder er ist vielleicht sogar das Problem überhaupt.«
    Sie räusperte sich verlegen.
    »Alles, was du sagst, werde ich in meinem Herzen verschließen«, beruhigte er sie.
    Sofia holte tief Luft. Das Ganze war ihr furchtbar unangenehm, aber sie war so unglücklich, dass sie einfach keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte. Nach dem Mittagessen hatte sie zu Riccardo gesagt: »Bitte fahr mich zur Kirche, ich möchte beichten.«
    Sie konnte sich vorstellen, wie ungläubig Ricardo geguckt haben musste, denn so einen Wunsch hatte sie noch nie geäußert. Aber er war widerstandslos mit ihr ins Dorf gefahren und hatte die Gelegenheit genutzt, in die Bar zu gehen.
    »Mein Mann ist zurzeit in Deutschland«, begann sie zaghaft, »er musste zu einer Beerdigung. Und ich kann nachts nicht mehr schlafen, so eine Angst habe ich, dass er nicht wiederkommt.«
    »Aber warum sollte er nicht? Habt ihr euch gestritten?«
    »Nein. Wir streiten nie.«
    »Ja, aber dann gibt es doch gar keinen Grund, nicht wiederzukommen. Betrügt er dich?«
    »Niemals! Das tut er nicht! Das wäre unvorstellbar!«
    »Aber wo liegt dann dein Problem, ich verstehe nicht …«
    Sie antwortete sehr schnell, und ihre Stimme rutschte ein bisschen höher. »Jonathan liebt mich. Er liebt mich sehr. Ich spüre es bei jeder Geste, jedem Satz, jedem Wort. Er trägt mich auf Händen! Und ich liebe ihn auch. Mehr, als ich beschreiben kann.«
    »Ja, Sofia. Ja, und?«
    »Ich könnte glücklich sein, aber ich bin es nicht. Denn er liebt mich zwar, aber auf seine ganz eigene Art. Irgendwie nicht richtig.«
    Don Lorenzo schwieg, um sie zum Weiterreden zu animieren. Aber da kam nichts mehr. Auch Sofia schwieg.
    »Was ist es denn? Was ist irgendwie nicht richtig?«
    Sofia nahm scheinbar Anlauf, um den Satz endlich zu wagen. »Er schläft nicht mit mir, Don Lorenzo.«
    Sofia saß im Beichtstuhl wie ein kleines, verunsichertes Mädchen. Das Tuch war ihr auf die Schultern gefallen, und sie drehte mit einem Finger eine Haarsträhne zu einer Locke. Aber ihr Ton war glasklar, so wie man nur redete, wenn

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