Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
Vom Netzwerk:
die CD vor zwei Jahren plötzlich verschwunden. Fast panisch hatte Sofia ihre gesamte Musiksammlung durchsucht, doch die CD war wie vom Erdboden verschluckt. Sie erinnerte sich noch gut an die Situation in Siena, als Jonathan auf das Auto eingeschlagen hatte, aus dem Bocellis Time to say goodbye erklang. Daher glaubte sie auch nicht, dass Jonathan die CD hatte, er hatte schließlich selbst unter Tränen gesagt, er könne die Musik nicht ertragen, aber sie fragte ihn trotzdem.
    »Ich suche meine CD von Bocelli«, begann Sofia, »aber ich kann sie nirgends finden. Sie scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Hast du sie irgendwo gesehen?«
    »Nein«, antwortete Jonathan wie aus der Pistole geschossen. »Keine Ahnung, wo sie ist. Vielleicht hast du sie ganz in Gedanken verlegt. Wenn ich sie finde, gebe ich sie dir.«
    Es klang so aalglatt. Sie hatte das Gefühl, dass er log, aber wie immer diskutierte sie nicht weiter, um ihn nicht zu verärgern.
    Und jetzt lag die CD hier in seiner geheimen Kammer.
    Die anderen beiden Schubladen der Kommode waren leer.
    Sofia begann, die Kommode genauer zu untersuchen.
    Obenauf lag eine seidige Decke mit Spitzenrand, vielleicht geklöppelt, das konnte sie nicht genau erfühlen. Sie ertastete einen Bilderrahmen, dann noch einen und noch einen. Fünf insgesamt. Eine kleine Vase mit Wasser und frischen Blumen darin. Einen gewaltigen und schweren Kerzenständer und Kerzen. In allen Formen und Größen. Daneben ein Päckchen Streichhölzer. Ersatzkerzen in einer schweren Silberschale, die es in ihrem Haushalt noch nie gegeben hatte. Offensichtlich hatte Jonathan sie nur zu diesem Zweck angeschafft.
    Und dann stießen ihre Finger an einen i-Pod auf einem kleinen Lautsprecher. An der oberen Kante waren Kopfhörer eingestöpselt. Sofia brauchte eine Weile, fand die Taste zum Einschalten, steckte sich die Kopfhörer in die Ohren und knipste den i-Pod an.
    »Time to say goodbye«, sangen Andrea Bocelli und Sarah Brightman im Duett.
    Sofia zuckte zusammen und schaltete weiter. Wieder dasselbe Lied. Und nochmal und nochmal und immer wieder. Es gab keinen anderen Song auf dem i-Pod.
    Es war ihr klar, dass sie sich in Jonathans Allerheiligstes vorgewagt hatte, aber sie dachte nicht mehr daran, was geschehen könnte, wenn er jetzt überraschend nach Hause käme, sie wollte nur noch wissen, was mit ihrem Mann los war, den sie immer weniger verstand.
    Und der ihr allmählich unheimlich wurde.
    Sofia tastete sich weiter vor und erkannte, dass über der Kommode ein Bild hing. Und jetzt konnte sie das alles auch interpretieren: Es handelte sich nicht um einen privaten Raum zur Entspannung, nein, sie befand sich vor einem Altar. Vor Jonathans geheimem Altar.
    Hier saß er in den Nächten und weinte. Hier vor diesem Bild.
    Sie versuchte es zu erfühlen. Durch die Ölfarbe war das sogar annähernd möglich. Es war ein Gemälde. Mindestens fünfzig mal achtzig Zentimeter groß. Sofia ertastete es Zentimeter für Zentimeter, meinte die Struktur von Haaren zu spüren, dann fand sie die geringen Erhebungen, die sie als leicht geöffnete, lächelnde Lippen interpretierte, und erforschte das Gesicht weiter.
    Und plötzlich erschrak sie, eine heiße Woge durchflutete ihren Körper, denn sie konnte es einfach nicht glauben: Dort, wo sie die Augen vermutete, waren zwei Löcher. Die Leinwand war durchstoßen, die Augen zerstochen und in einer wütenden Drehbewegung herausgeschält worden.
    Sofia bebte. Die Angst saß ihr im Nacken wie eine eiskalte Hand.
    In diesem Moment hörte sie das Auto und stolperte rückwärts aus der Kammer. Dabei stieß sie so unglücklich an die Tür, dass der Schlüssel, der im Schloss gesteckt hatte, herunterfiel.
    Sie brach in Panik aus, ging auf die Knie und tastete mit fliegenden Fingern den Boden ab, fand den Schlüssel nach einigen Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, und versuchte ihn ins Schloss zu stecken. Ihre Hände zitterten so, dass sie es kaum schaffte, immer wieder abrutschte und das Gefühl hatte, der Schlüssel könnte überhaupt nicht passen.
    Währenddessen hörte sie die Stimmen von Jonathan und Riccardo vor dem Haus.
    Sie wurden lauter und kamen näher.
    Endlich passte der Schlüssel ins Schlüsselloch, sie schloss ab und lief, so schnell sie konnte, ins Bad. Dabei krachte sie mit der Hüfte gegen den Esstisch, verzog das Gesicht vor Schmerz, hastete weiter und hatte die Kette mit dem Schlüssel gerade auf die Ablage zurückgelegt, genau dorthin, wo sie ihn

Weitere Kostenlose Bücher