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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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der Faust auf den Nachttisch, dass die Nachttischlampe hüpfte.
    »Hast du sie umgebracht?«
    Engelbert sah aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen, und schüttelte den Kopf. Aber es wirkte nicht sehr überzeugend.
    »Henning, ich schwöre dir, ich kann mich nicht erinnern! Oh mein Gott!« Er stand schwerfällig auf, ging zum Fenster und rang die Hände. »Ich weiß noch, dass ich betrunken war. Ja, da war Nele. Sie lag im Schuppen und sah mich an. Mehr weiß ich nicht. Und dann wollte ich nur noch nach Hause und ins Bett. Aber wie ich ins Bett gekommen bin, weiß ich nicht mehr.«
    »Eins steht fest«, sagte Henning, »wir müssen hier so schnell wie möglich verschwinden.«
    Ihm war klargeworden, dass es auch für ihn schlecht aussah, wenn Engelbert verdächtigt wurde. In der Not würde Engelbert ihn verpfeifen, und wer weiß, ob man jemals eindeutig feststellen konnte, wer der Letzte bei Nele gewesen war.
    Sie hatten beide keine guten Karten.
    »Fällt es nicht auf, wenn wir nach dieser Sache so überstürzt wieder abreisen?«, fragte Engelbert völlig verunsichert.
    »Ja, vielleicht. Ich weiß nicht. Aber zieh dich jetzt an und komm runter.«
    Er ging, und Engelbert hatte zum ersten Mal in seinem Leben richtig Angst.
     
    »Selbstmord«, sagte Hennings Mutter Imke. »Ganz eindeutig Selbstmord. Was denn sonst? Nele war nicht ganz bei Trost, die wusste doch gar nicht, was sie tat, und so was kommt nun mal von so was. Vielleicht ist sie im Dunkeln auch einfach ins Wasser gefallen? Kann doch sein! Was anderes kommt gar nicht infrage! Wer sollte denn der Nele was tun? Gibt’s doch gar nicht, nicht hier, nicht bei uns. Nee, das schlagt euch mal aus dem Kopf. Hab ich dem Polizisten auch gesagt. Die Nele war’ne Nette. Ne ganz Liebe. Tat keiner Fliege was, war eben nur nich ganz richtig im Kopf. Aber so’ne Leute leben ja nie lange. Die Harmlosen sind immer die Ersten, die sterben. Aber schlimm is es vor allem wegen dem Bruno. Ob der sich nochmal fängt, is so’ne liebe Sache. Erst die Frau und dann auch noch die Tochter! Fürchterlich! Heute Morgen haben sie ihn gleich weggebracht. In die Psychiatrische nach Flensburg. Dass der sich bloß nich auch noch was antut! Denn das is ja das Üble im Leben: Ein Drama zieht das andre hinter sich her. Und wenn du erstmal mittendrin steckst in so’ne Tragödie, kommste so schnell nich wieder raus. Nee, es is schon ein bisschen schade um die Nele.«
    »Hör auf, Mama.« Henning wurde ganz schlecht, wenn er seine Mutter so reden hörte. Engelbert saß leichenblass vor seinem Tee und schwieg.
    »Der Bruno hat sein Leben lang geschuftet«, fuhr sie unbeirrt fort. »Nichts hat er sich gegönnt. Gar nichts. Es war immer alles nur für die Irmgard und dann für die Nele. Sie sollten es gut haben. Glücklich sein sollten sie, und fehlen sollte es ihnen an nichts. Aber glücklich waren sie alle beide nicht. Und jetzt sind sie tot, und nichts bleibt ihm. Gar nichts. War alles umsonst. Ist das gerecht?« Sie stützte sich mit beiden Fäusten auf die bunt-karierte Plastikdecke des Tisches und sah Henning in die Augen. »Und jetzt weißt du, warum ich seit zwanzig Jahren nicht mehr in die Kirche gehe. Weil nichts gerecht ist auf der Welt. Gar nichts.«
    »Lass gut sein, Mama.«
    Imke nickte und setzte sich. Offensichtlich hatte sie jetzt ihre gesamte Munition verschossen. Sie nahm zwei Löffel Kandis in den Tee und rührte langsam um. Mit Entsetzen sah Henning, dass sie schon die spitz und hoch aufragenden Handknöchel hatte, die so charakteristisch für alte Leute waren. Meine Mutter ist erst zweiundsechzig, dachte er und hatte in diesem Moment das Gefühl, dass er sie bald verlieren würde.
    »Wann kommt Papa wieder?«, fragte er.
    »So gegen halb acht. Er hilft dem dicken Hein beim Heu machen. Noch ist das Wetter günstig.«
    Henning nahm die Hand seiner Mutter und drückte sie sanft.
    »Wir werden morgen Vormittag wieder fahren, Mama«, sagte er, »nicht traurig sein, wir kommen bald wieder, aber Engelbert hat bald eine Prüfung und muss noch verdammt viel lernen, ihm fehlt im Moment einfach die Ruhe, die Landschaft hier zu genießen.«
    »Verstehe«, sagte Imke mit zusammengepressten Lippen. »Natürlich. Wenn ihr fahren müsst, dann fahrt!«
     
    Am Abend gingen sie noch einmal durch den Ort. Vor dem Schuppen blieb Engelbert lange stehen.
    »Ich erinnere mich wirklich an nichts«, sagte er, »ich schäme mich, aber es ist so. Bitte glaub mir.«
    Henning nickte nur. Dann

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