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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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Morgen auf La Passerella habe ich auch heute wieder das Gefühl, um uns herum sei das Meer«, sagte er leise zu Sofia, denn er hatte ein schlechtes Gewissen, von dem zu schwärmen, was er sah.
    »Ich weiß«, sie nahm seine Hand und drückte sie, »ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es aussah, wenn der dichte Nebel über Ambra lag.«
    »Es ist fast, als würden wir durch ein Juwelenfeld gehen, Sofia. An jedem Grashalm hängen Hunderte von winzigen glitzernden Bläschen, und an der Spitze jeden Halmes prangt ein dicker Tropfen, der im Sonnenlicht funkelt. Wenn ich länger hinsehe und meinen Kopf leicht hin und her drehe, strahlt er wie ein geschliffener Diamant in allen Farben.«
    »Du bist nicht nur mein Auge, du bist sogar mein Mikroskop«, antwortete Sofia leise, und Jonathan strich ihr übers Haar.
    Sie ging los. Zügiger als sonst, aber die Richtung stimmte nicht ganz, und sie lief geradewegs auf den Abgrund zu.
    Jonathan hatte einen Moment geträumt und Richtung Cennina gesehen, das in der Ferne wie das versunkene Atlantis aus dem Nebel auftauchte, aber im letzten Moment bemerkte er das drohende Unheil, stürzte zu Sofia und riss sie zurück.
    Er schloss sie fest in seine Arme. »Pass doch auf«, flüsterte er, »und geh nicht mehr ohne mich. Keinen Schritt!«
    Sie nahm den zarten Duft von borkiger Rinde und Zimt wahr, einen Geruch, den sie vom ersten Moment an nur ihm zugeordnet hatte. Dann spürte sie seinen leichten Atem. Sein Gesicht näherte sich dem ihren, und sie verharrte bewegungslos.
    Als er ihren Kopf in seine Hände nahm und seine Lippen langsam und fest auf ihren Mund drückte, wurde ihr schwindlig. Es war, als ob das Glück, das sie in dieser Intensität noch nie erlebt hatte, sich in ihrem Kopf drehte. Sie fürchtete zu fallen, da ihre Knie nachgaben und einknickten, aber er hielt sie fest. Sie schlang ihre Arme um ihn, öffnete ihren Mund und war bereit für alles, was ihr an seiner Seite widerfahren würde.
     
    Wieder zurück in seinem Zimmer, öffnete er seinen Koffer, den er in einer dunklen Ecke neben dem Schrank abgestellt hatte. Er nahm die Rolle heraus, die er sorgsam gehütet, aber nicht mehr angesehen hatte, seit er nach La Passerella gekommen war.
    Es war Giselles Selbstbildnis in Öl, ihr Geschenk, und während ihres Todes von einem Lastwagen überrollt.
    Im Magazin fand er Holzleisten, Dübel, Nägel und Schrauben. Früher hatte er öfter Bilder für Giselle gerahmt und mit der Zeit einige Fertigkeit darin entwickelt. Dennoch arbeitete er fast vier Stunden, bis er mit seiner Arbeit zufrieden war. Dann hängte er es an die Wand dem Bett direkt gegenüber und legte sich hin, um es in Ruhe zu betrachten.
    Die Schöne auf dem Bild sah ihn an. Mit klarem, wachem Blick.
    Sie war ihm nahe, und das machte ihn glücklich. Dies war seine zweite Chance. Diesmal würde er für sie sorgen, sie nicht mehr aus den Augen lassen und vor jedem Unheil bewahren. Noch einmal würde er sie nicht verlieren.
    Jonathan vergaß Zeit und Raum, er stand nicht auf, um etwas zu essen oder zu trinken, weil er diesen Moment festhalten wollte.
    Es dämmerte, und langsam wurde es dunkel. Über die Farben legte sich kaum merklich ein immer dichter werdender Schatten, die Konturen verschwammen. Irgendwann konnte er sie nicht mehr erkennen.
    Es war, als wäre sie aus dem Zimmer gegangen.

ELF
    Es war einen Tag vor Heiligabend und frühlingshaft warm, als Jonathan aus dem Haus trat. Er blinzelte in die milde Nachmittagssonne und zog seine Jacke aus. Unwillkürlich musste er an Berlin denken, wenn er an einem warmen März-oder Apriltag zum ersten Mal im Jahr die Gartenmöbel aus dem Schuppen geholt und auf die Terrasse geschoben hatte.
    Er sah auf die Uhr. Kurz nach drei. Amanda schlief wahrscheinlich noch, und Riccardo war im Dorf, um seine neu geschärfte Motorsäge abzuholen. Einen Moment überlegte er, ob er mit Sofia noch einen Kaffee trinken sollte, entschied sich dann aber, sofort loszufahren. Am Tag vor Weihnachten war die Stadt sicher voll, und allein die Parkplatzsuche würde ein Problem sein.
    Mittlerweile fuhr er die Strecke nach Siena fast im Schlaf. Er rumpelte über Sand und Steine nach Monte Benichi, und irgendetwas in der Lenkung quietschte, wenn er in eine Linkskurve fuhr. Lange würde der Wagen nicht mehr halten. Über kurz oder lang musste er sich einen Jeep zulegen, der besser in Schuss war.
    Er fuhr durch den grauen, blätterlosen Wald, vorbei an San Gusmè, und verzichtete auch hier darauf,

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