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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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legte ab und zu den Kopf in den Nacken, um die schnell ziehenden Wolken zu beobachten. Dabei murmelte sie etwas vor sich hin.
    Engelbert deutete auf Nele und sah Henning irritiert an. »Betet sie?«
    Henning zuckte die Achseln. Es interessierte ihn nicht, was Nele brabbelte. Aber Engelbert beugte sich vor und konzentrierte sich. Und nach einer Weile verstand er, was sie flüsterte, da sie dieselben Zeilen immer wiederholte:
»Heute, nur heute
Bin ich so schön;
Morgen, ach morgen
Muss alles vergehn!
Nur diese Stunde
Bist du noch mein;
Sterben, ach sterben
Soll ich allein.« Frauke, mit beinah taillenlangen, gelockten blonden Haaren, die sie im Nacken zusammengebunden hatte, näherte sich von hinten und hielt Henning die Augen zu.
    »Rate!«, rief sie.
    Henning wusste genau, wer sie war, aber er sagte zur Erheiterung der Runde: »Gesine?«
    »Nein.«
    »Wiebke?«
    »Auch nicht.« Frauke kicherte.
    »Nele?«
    »Na sag mal.«
    »Dann kannst du nur Frauke sein!«
    Frauke quietschte vor Begeisterung, Henning stand auf, sie umarmten sich stürmisch, und dann setzte sich Frauke bei Henning auf den Schoß.
    »Guck nicht so«, sagte sie zu Engelbert, »Henning ist für mich wie ein Bruder. Wie mein großer Bruder. Früher waren wir jede Minute zusammen, stimmt’s, Henning?«
    »Stimmt.«
    »Ein Leben ohne Henning war für mich unvorstellbar, und dann geht dieser Idiot einfach nach Berlin!« Sie bedeckte sein Gesicht mit Küssen, und Engelbert sah, dass Nele die Szene beobachtete.
    Mittlerweile war es dunkel. Aus zwei Lautsprechern plärrte in blechernem Klang » Monsieur Dupont «. Henning und Frauke tanzten, außer ihnen noch vier andere Paare.
    Engelbert hatte die Biere und die Kümmerlinge, die er getrunken hatte, nicht mehr gezählt. Irgendwann war es auch egal. Jasper, ein Milchbauer aus Scheudorf, redete auf ihn ein, Engelbert hörte weder zu, noch antwortete er, und Jasper schien es überhaupt nicht zu bemerken.
    Nele wanderte unermüdlich durch die Gegend. Um die Tanzfläche, ums Pastorat und um die Scheune. Immer wieder. Niemand beachtete sie, offensichtlich waren alle an ihr Verhalten gewöhnt.
    Auf der Wiese vor dem Pastorat wurde es allmählich leerer, die Musik kam einem dadurch lauter vor. Penny Lane sangen die Beatles. Engelbert sah sich nach Henning um, er war nicht zu sehen.
    Da überkam ihn die kalte Wut. Was tat er hier eigentlich? Er saß auf einer dunklen Wiese im Wind unter lauter besoffenen Idioten und spürte, dass er selbst kurz davor war, sich zu übergeben. Der Abend war sterbenslangweilig, eine einzige Katastrophe, und ihm grauste vor morgen, wenn die rasenden Kopfschmerzen jeden Gedanken, jede Bewegung und jeden Schritt zur Tortur machen würden.
    Mühsam stand er auf und verfluchte innerlich dieses ganze Dorf am Ende der Welt.
    Er stolperte um das Pastorat herum. Hier war es stockfinster. Er hatte keine Taschenlampe und wollte jetzt nicht in den nächsten Graben stürzen und in dieser Nacht, in der keiner bei Sinnen war, jämmerlich ersaufen.
    Henning war bestimmt mit Frauke irgendwo im Heu verschwunden. Augenblicklich bekam er einen bitteren Geschmack auf der Zunge, so wütend war er auf Henning, dass der ihn einfach so hängen ließ und sich stattdessen mit irgendeiner Schlampe vergnügte. Er hatte Lust, sich zu prügeln, und unwillkürlich sah er sich um, ob nicht irgendwo eine Latte, ein Stock oder sonst etwas herumlag, mit dem er zumindest ein parkendes Auto hätte zertrümmern können.
    Er tastete sich vorwärts.
    Ein Stück weiter rechts war der alte Holzstall des Pastorats, an dessen Vorderseite eine kleine Lampe brannte. Engelbert ging auf den Lichtschein zu, aber bevor er den beleuchteten Bereich erreichte, bemerkte er in einer Nische, in der Schubkarre, Rasenmäher, ein altes Fahrrad, Holzkisten und Benzinkanister abgestellt waren, eine Bewegung. Er blieb stehen, horchte und vernahm ein leises, rhythmisches Stöhnen. Er tastete sich weiter hinein ins Dunkle. Nur schattenhaft konnte er die Umrisse eines Mannes erkennen, der an der Schuppenwand lehnte. Jetzt drehte er den Kopf zur Seite, und in diesem Moment leuchtete der Schein der Laterne durch eine Lücke zwischen den Latten, mit denen der Holzstall zusammengenagelt war. Henning hatte die Augen geschlossen und zuckte, vor ihm kniete Nele. Ihr Kopfbewegte sich heftig vor und zurück, sie schmatzte und schlürfte laut und hatte ihre Hände in Hennings Jacke verkrallt.
    Engelbert begann zu zittern, als er die Szene begriff, die sich vor

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