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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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sagte Engelbert leise: »Du hast mich gesehen, und du hältst deine Schnauze. Du bist ein echter Freund, Henning. Das werde ich dir nie vergessen.«
    Engelbert und Henning umarmten sich stumm.
     
    Dr. Engelbert Kerner griff zum Telefon und rief den Anwalt des Angeklagten an.
    »Herr Frey, es tut mir leid, dass ich Sie in der Pause störe«, begann er, »aber könnte ich Sie wohl ein paar Minuten sprechen? Bitte kommen Sie doch mal kurz in mein Büro.«
    Zwei Minuten später nahm Norbert Frey vor dem Richterschreibtisch Platz. Er war Anfang dreißig, leicht übergewichtig und hatte ein nervöses Zucken unter dem linken Auge.
    Engelbert spielte mit seinem Kugelschreiber und sah den jungen Kollegen aufmunternd freundlich an.
    »Haben Sie schon eine Vermutung, wie die Verhandlung ausgeht?«
    »Ich kann natürlich nicht in Ihren Kopf gucken«, meinte Frey ausweichend und lächelnd, »aber ich denke, es wird auf ein halbes Jahr auf Bewährung hinauslaufen.«
    »Das ist das, was die Staatsanwaltschaft mindestens fordern wird«, nickte Engelbert.
    »Richtig.«
    »Dann hätten Sie verloren.«
    Norbert Frey atmete tief durch. Er wusste nicht, was das Ganze sollte. »Ich zieh mir den Schuh nicht an, denn viel Spielraum haben wir bei der Rechtslage alle nicht.«
    »Genau. – Also passen Sie auf.« Engelbert beugte sich ein Stückchen vor, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Staatsanwalt Binder ist ein scharfer Hund. Er kriegt Pickel, wenn er verliert. Und in den letzten fünfzehn Jahren hatte er fast immer einen makellosen Teint.« Engelbert grinste. »Das wollen wir doch ändern. Finden Sie nicht?« Er lehnte sich genüsslich zurück und verschränkte die Arme. »Sie sind noch relativ neu in unserem Gewerbe, habe ich Recht?«
    Frey nickte. »Das ist mein dritter Prozess.«
    »Und?«
    »Ein Sieg, ein Vergleich, eine Niederlage.«
    »Ah ja. Kein Problem. Aber sehen Sie, heute möchte ich Ihnen ein bisschen auf die Sprünge helfen. Auch wegen Binder natürlich. So wie der Fall jetzt liegt, kriegt der Junge ein halbes Jahr. Ganz klar. Aber ist das wirklich so einfach? Haben Sie den Zustand der Kreuzung und die Situation zur Zeit des Unfalls genau recherchiert? Wissen Sie, ob da nicht eine Ölspur, eine riesige Pfütze oder Rollsplitt auf der Straße war? Da wäre wahrscheinlich auch ein nüchterner Fahrer geschleudert. Und wie stand die Sonne? Vielleicht war der Fahrer geblendet? Oder sind Kinder auf die Straße gelaufen? Hat sich ein Hund von der Leine gerissen? Was weiß ich? Da gibt es tausend Möglichkeiten.«
    Es war still im Büro.
    »Verstehen Sie?«
    »Ja, natürlich.«
    »Gut.« Engelbert stand auf und reichte dem Anwalt die Hand. »Stellen Sie einen Antrag, dann werden wir die Fortsetzung des Prozesses vertagen.«
    Norbert Frey nickte und verließ nachdenklich das Büro.
     
    Zwei Tage später sprach Richter Dr. Engelbert Kerner das Urteil, und alle Anwesenden erhoben sich.
    »Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte unterliegt dem Jugendstrafrecht. Er wird wegen des Führens eines Fahrzeugs bei Trunkenheit und der fahrlässigen Tötung einer Frau nach § 59 StGB verwarnt, erhält eine Geldstrafe von achttausend Mark, die den Hinterbliebenen des Opfers zugutekommen, und ist verpflichtet, innerhalb der nächsten drei Monate zweihundert Stunden gemeinnützige Arbeit zu verrichten. Der Führerschein wird ihm für ein halbes Jahr entzogen. – Bitte nehmen Sie Platz.«
     
    Jonathans Blut pochte in den Schläfen. Er war kaum in der Lage zu atmen und glaubte zu kollabieren. Das war nichts. Fast nichts. Die Geldstrafe war der blanke Hohn und tat dem jungen Mann, beziehungsweise seinen Eltern, überhaupt nicht weh. Dass er selbst dieses Geld als Entschädigung für seine tote Tochter erhalten sollte, war lachhaft. Er würde es einer Organisation für Verbrechensopfer spenden.
    Und ansonsten? Zweihundert Stunden Laub harken? War das eine Strafe? Eine Vergeltung für den Tod eines Menschen? Und auch der Verlust des Führerscheins für ein halbes Jahr tat nicht wirklich weh.
    Dieser Tobias Altmann war jetzt noch nicht einmal vorbestraft. Er konnte seine makellose Weste weiterhin spazieren tragen.
     
    Dr. Engelbert Kerner begründete das Urteil.
    »Tobias Altmann ist neunzehn Jahre jung, hat gerade Abitur und im Überschwang des Glücks und der Erleichterung über die bestandenen Prüfungen einen großen Fehler gemacht: Er hat sich auf der Abiturfeier im Haus seiner Eltern völlig betrunken und ist

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