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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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Riccardo hätte mitbekommen, wenn er jeden Tag Stunden in dem kalten Zimmer gearbeitet hätte, aber erst recht hätte er mitbekommen, wenn Sofia ihm Modell gesessen hätte.
    Wie kam das Bild seiner Tochter in den Besitz dieses Mannes?
    Oder hatte er es zufällig entdeckt? Auf dem Antikmarkt in Arezzo vielleicht? Er hatte die Ähnlichkeit mit Sofia erkannt und es gekauft, um es Weihnachten zu verschenken. An ihn und Amanda.
    Das war die einfachste und logischste Erklärung. Und weil es eine Weihnachtsüberraschung sein sollte, hatte er es verhüllt.
    Riccardo beruhigte sich wieder. Morgen Abend oder spätestens zu Epifania, dem Dreikönigsfest am sechsten Januar, würde er erfahren, was es mit dem Bild auf sich und wo Jonathan es gefunden hatte.
    Sorgfältig hängte Riccardo das Tuch wieder über das Bild und verließ die Wohnung.

ZWÖLF

    Dreihundertfünfzigtausend. Sie würde ihren Anwalt Dr. Bremer anrufen, um bei dem Vertrag, den sie mit Jonathan schließen musste, keinen Fehler zu machen. Aber die Lösung gefiel ihr. Jana hatte keine Ahnung, was er mit dem Geld anfangen wollte, sie wusste nicht, wo und mit wem er in Italien lebte, aber eigentlich wollte sie es auch gar nicht wissen, er war ihr mittlerweile herzlich egal.
    In den letzten sechs Wochen, seit er nicht mehr da war, hatte sie sich vollkommen entspannt. Es gab Tage, da konnte sie sogar vergessen, dass es einmal ein Leben mit Jonathan gegeben hatte.
    Jetzt war der erste Schritt zur endgültigen Trennung gemacht, sie musste sich wohl oder übel mit ihm auseinandersetzen, und die Erinnerung an drei Jahre Hölle nach Giselles Tod war wieder da.
    Jonathan hatte nicht weinen können. Nie sah sie eine Träne auf seinem Gesicht, seine Augen waren wie ausgetrocknet, rot und entzündet, als hätte er versucht, sie sich auszukratzen.
    In den ersten Tagen nach Giselles Beerdigung war es im Haus von Jana und Jonathan zugegangen wie im Taubenschlag. Freunde kamen vorbei, saßen zwei, drei Stunden in der Küche, tranken literweise Kaffee und sagten alle immer wieder denselben Satz: »Wenn ihr Hilfe braucht oder reden wollt – wir sind jederzeit für euch da.«
    Jonathan wollte keine Hilfe, und er wollte auch nicht reden. Er saß in seinem Haus, schwieg beharrlich und war für niemanden zu sprechen.
    »Schmeiß sie alle raus«, sagte er zu Jana, »ich bin nicht da. Ich will keinen sehen.«
    »Das geht nicht, Jonathan. Das weißt du sehr gut. Und irgendwann brauchen wir sie vielleicht. Man kann nicht alles allein durchstehen.«
    »Leck mich am Arsch.«
    Zwei Wochen später war der Spuk vorüber. Niemand kam mehr vorbei, das Telefon klingelte vielleicht noch ein-, aber nicht mehr zwanzigmal am Tag, und Jana und Jonathan saßen allein in der Küche.
    Sie sorgte sich mehr um ihn als um ihre eigenen Gefühle, versuchte ihn zu umarmen, aber er stieß sie weg.
    »Lass mich in Ruhe«, war das Einzige, was er zischte.
    »Aber wir haben doch nur noch uns«, flüsterte sie verzweifelt. »Wir können uns doch nicht auch noch verlieren.«
    »Wir haben nichts mehr«, erwiderte er dumpf. »Gar nichts mehr.«
    Stundenlang saß er in Giselles Zimmer. Regungslos, stumm und ohne Tränen. Nur noch selten kam er in die Küche, aß fast nichts mehr und magerte ab. Aber er trank. Jeden Tag eine Flasche Wodka, Gin, Grappa oder Korn, bis er nicht mehr konnte und in einen ohnmachtähnlichen Schlaf fiel.
    Seit einem halben Jahr hatte er kein einziges Foto mehr gemacht, hatte die Galerie nicht mehr besucht und sein Studio nicht mehr vermietet. Er hatte kein Event mehr organisiert, er hob nicht ab, auch wenn das Telefon minutenlang läutete, und ignorierte seine Mails.
    Auch Weihnachten verbrachten sie wie schon das gesamte vergangene halbe Jahr schweigend und jeder für sich im selben Haus. Jonathan saß in Giselles Zimmer, Jana vor dem Fernseher. Es gab keinen Baum und keinen Weihnachtsschmuck, und Jana legte noch nicht einmal ihr geliebtes Oratorium auf.
    Im Januar hielt sie es nicht mehr aus. »Ich kann nicht mehr«, sagte sie, als er nur kurz in die Küche kam, um sich eine Tasse Kaffee zu holen. »Ich kann so nicht leben. Du redest kein Wort mit mir, hockst nur noch vor ihrem Bild und bemitleidest dich. Das ist krank, Jonathan! Komm doch endlich zurück ins Leben!«
    »Krank ist das?«, fuhr er herum und verschüttete den Kaffee auf den Fußboden. »Krank nennst du das, wenn ich um sie trauere, weil ich sie geliebt habe wie nichts auf dieser Welt? Weißt du, was du da sagst? Und weißt du

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