Der Menschenraeuber
in der kleinen Bar im Zentrum des mittelalterlichen Städtchens einen Kaffee zu trinken und einige weihnachtliche Ricciarelli zu essen. Es würde viel Zeit brauchen, für Sofia, Amanda und Riccardo Weihnachtsgeschenke zu finden.
Jonathan kam zügig voran. Im Winter fuhr kaum jemand die kurvige Straße, die durch Weinberge und kleine Dörfer führte, die meisten benutzten die Schnellstraße und dann die Tangenziale, die um Siena führte und eine Abfahrt zu jedem Stadttor hatte.
Nach vierzig Minuten erreichte er Siena und nahm im ersten Kreisverkehr die dritte Ausfahrt in die Innenstadt zur Porta Ovile. Durch die Stadt staute sich der Verkehr, und bis zum Forte S. Barbara brauchte er zwanzig Minuten. Auf der Piazza IV Novembre fand er einen gebührenpflichtigen Parkplatz, löste ein Ticket für drei Stunden und ging dann in Richtung Campo über die Viale Vittorio Veneto und die Viale dei Mille bis zur Kathedrale S. Domenico und von dort bis zur Piazza S. Giovanni, wo er im November in einem kleinen Laden, der hauptsächlich Antiquarisches verkaufte, Bücher in Blindenschrift entdeckt hatte.
Er fand auf Anhieb, was er suchte. Ganz oben im Regal standen italienische Märchen von Italo Calvino. In Blindenschrift umfassten sie zehn Bände, waren aber komplett. Jonathan konnte sein Glück kaum fassen.
»Was kosten die Märchen?«, fragte er den Buchhändler.
»Zweihundertsiebzig Euro«, antwortete dieser mit stoischer Miene, als sei dieser Preis das Normalste der Welt.
»Was?« Jonathans Stimme überschlug sich fast.
»Ja«, meinte der Buchhändler achselzuckend, blätterte gelangweilt in einem Katalog und würdigte Jonathan keines Blickes. »So ist es. Zweihundertsiebzig Euro.«
»Sind Sie verrückt geworden? Sind Sie komplett irre?«, schrie Jonathan auf Deutsch.
»Blindenschrift ist so eine liebe Sache«, sagte der Buchhändler vollkommen ungerührt, »kompliziert und teuer. Und es gibt nur sehr wenige Exemplare.«
Jonathan hörte ihm gar nicht zu.
»Ja, und wer soll das kaufen?«, brüllte er. »Wer denn? Kein Mensch! Und zu diesem aberwitzigen Preis schon gar nicht! Du bist doch völlig hirnverbrannt, wenn du hier in deiner Bude hockst und hoffst, dass irgendein Vollidiot mit einem Sack voll Geld vorbeikommt, um genau diese Bücher zu kaufen! Du bist doch nicht ganz bei Trost!«
Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn.
Der Buchhändler hatte kein Wort verstanden, aber sah ihn mit stoischer Ruhe an. Keinen Cent würde er diesem Spinner nachlassen.
»Zweihundertsiebzig Euro«, murmelte er, stützte sich auf seine Ellbogen, rückte seine Brille dichter vor die Augen und zog die Brauen hoch, als würde er ganz besonders interessiert und gründlich einen Absatz in seinem Katalog studieren.
Jonathan bebte. Er machte einen Schritt auf den Mann zu, riss ihn an der Jacke hoch und schüttelte ihn.
»Meine Tochter ist blind! Hörst du! Sie will diese Bücher, und sie kann nur Blindenschrift lesen, du Schwachkopf!«
Der Buchhändler nestelte nach seinem Handy, um die Carabinieri zu rufen.
Jonathan ließ ihn los, schob sich die Haare aus der verschwitzten Stirn und atmete tief durch. Dann trat er einen Schritt zurück.
»Okay, okay, okay. – Ich komme wieder.«
Damit verließ er den Laden.
Auf der Straße sah er in seine Brieftasche.
Er hatte nur noch hundertfünfundzwanzig Euro und etwas Kleingeld und wollte außerdem Wein und eine Kleinigkeit für Amanda und Riccardo kaufen, auch wenn er noch nicht wusste, was.
Es dauerte keine zehn Minuten, da fand Jonathan eine Bank mit einem Geldautomaten vor der Tür. Er schob seine Plastikkarte in den Schlitz, gab seine PIN ein und drückte auf die 400-Euro-Taste.
»Die Karte ist ungültig« erschien lapidar auf dem Display, und der Automat spuckte sie wieder aus. Jonathan wollte es einfach nicht glauben. Bevor er es zum dritten und letzten Mal probierte, sah er sich seine Kreditkarte noch einmal genauer an und entdeckte, dass sie nur bis zum ersten Dezember gültig gewesen war.
Keine Chance, vor Weihnachten oder an den letzten Tagen des Jahres noch an Geld zu kommen.
Wütend schlug er mit der flachen Hand gegen den Geldautomaten, zog sein Handy aus der Tasche und rief Jana an. Sie war sofort am Apparat.
»Ja?«, sagte sie.
»Ich bin’s, Jana. Jonathan.«
»Was willst du?«
»Frohe Weihnachten, Jana.«
»Danke. Dir auch.« Sie legte auf.
Er wählte erneut.
»Ja?« Ihre Stimme klang genervt.
»Ist es schon zu viel, wenn ich dir frohe Weihnachten
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