Der Menschenraeuber
Zimmer und wehte sichtbar bis ins Schlafzimmer hinein. Er schloss die Tür wieder, machte Feuer im Kamin und freute sich auf den vielleicht ruhigsten Heiligabend, den er je erlebt hatte. Es gab nichts mehr zu tun, und während sich das Feuer langsam durch die aufgeschichteten Holzscheite fraß, kochte sich Jonathan einen Tee.
Er konnte sich nicht erinnern, schon jemals so viel Zeit gehabt zu haben.
Amanda wurde wach, weil das Badezimmerfenster im Wind schlug. Mühsam drehte sie sich ein Stück auf die Seite und sah auf die Uhr. Zehn nach elf. Eigentlich noch viel zu früh, gewöhnlich stand sie nicht vor zwölf auf. Sie überlegte, ob sie noch einmal versuchen sollte, einzuschlafen, aber dann spürte sie einen extremen Druck hinter den Augen, was ihr Angst machte. Außerdem hatte sie einen völlig ausgetrockneten Mund, sie musste dringend etwas trinken.
Einen Augenblick blieb sie noch regungslos auf dem Rücken liegen. In ihren Schläfen hämmerte es. Es ist doch alles so zum Kotzen, dachte sie, rollte sich aus dem Bett und trat geradewegs in die Scherben der Nachttischlampe, die mit zerbrochenem Schirm auf der Erde lag. Verflucht nochmal, wie ist das denn nun wieder passiert? Wie bin ich denn überhaupt ins Bett gekommen? Und wann?
Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was sie gestern Abend gemacht hatte. Hatte sie mit Riccardo ferngesehen? Oder waren Sofia und Jonathan den ganzen Abend in der Küche gewesen? Hatten sie sich unterhalten? Wer hatte eigentlich die Küche aufgeräumt, oder hatte sich niemand darum gekümmert?
Keine Ahnung. Sie wusste nichts mehr. Gar nichts mehr. Na ja, war ja auch egal. Sie pulte sich die Glassplitter aus den Zwischenräumen ihrer blutigen Zehen und stand mühsam auf. Fummelte ihre Füße in die Hausschuhe und musste sich dabei an der Wand festhalten, um nicht umzufallen. Dann schlurfte sie ins Bad.
Als sie ihr verquollenes Gesicht im Spiegel sah, fiel es ihr plötzlich ein. Madonna puttana, heute war ja Weihnachten. Na denn. Aber auch das machte im Grunde keinen Unterschied. Es war schließlich völlig egal, ob sie nun Heiligabend oder an einem stinknormalen Abend den Wein in sich hineingoss.
Als Jonathan um zwanzig Uhr in die Küche der Valentinis kam, brannten Kerzen auf dem Tisch, auf der Anrichte und in den Fenstern, und es duftete nach Rosmarin und Salbei. Amanda trug ein blaues, fleckiges Kleid und darüber mehrere lange Perlenketten. Sie hatte sich die Haare gewaschen, aber den knallroten Lippenstift, den sie versucht hatte aufzutragen, hatte sie bereits verschmiert und ihre Lippen außerdem auf groteske Weise überschminkt.
Sofia hingegen hatte ein knielanges, enges schwarzes Kleid an, und außer einer zarten goldenen Kette trug sie keinen Schmuck.
Du bist so schön, dachte Jonathan, es zerreißt mir das Herz, dass du das nicht selbst sehen kannst.
»Frohe Weihnachten«, sagte Amanda mit ungewohnt ruhiger Stimme, »Riccardo kommt gleich. Er holt nur noch was aus dem Magazin. Setzen Sie sich doch. Möchten Sie schon mal was trinken?«
Das war wieder die alte, vertraute Amanda, die es nicht ertragen konnte, fünf Minuten kein Glas in der Hand zu haben.
Während Amanda nach einem Korkenzieher suchte, nahm Jonathan Sofias Hand und drückte sie. Zuerst zuckte sie zusammen, aber dann erwiderte sie den Druck und lächelte.
Amanda ließ den Rotwein sprudelnd in einen Dekanter fließen, so dass er schäumte, und knallte ihn auf den Tisch.
»So«, sagte sie. »Heute ist Weihnachten, heute wird’s hier bei uns feierlich.«
Großzügig schenkte sie den Wein ein und prostete Jonathan zu.
»Salute! E buon natale.«
»Buon natale«, sagte Jonathan und legte Sofias Hand um den Stiel eines Glases. Dann stieß er mit seinem Glas an und ließ es klingen.
»Trinken wir auf dich«, flüsterte er so leise, dass Amanda es nicht hören konnte, die schon dabei war, eine weitere Flasche zu öffnen.
»Nein, auf uns«, sagte Sofia ebenso leise und sah ihn mit ihren großen braunen Augen an, und eine Sekunde lang hatte Jonathan die Illusion, dass sie ihn wirklich sah und nicht nur die nie enden wollende und sich nie verändernde Dunkelheit.
Riccardo wirkte müde, als er in die Küche kam. Er hatte sich nicht extra umgezogen, sondern trug die gleiche ausgeleierte Cordhose wie jeden Tag und eines der vielen karierten Hemden, die Jonathan an ihm kannte. Er reichte Jonathan die Hand.
»Ciao«, meinte er.
Riccardo setzte sich und polierte mit dem Daumen seinen Löffel.
»Mama,
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