Der Menschenraeuber
bereits zu weit aus dem Fenster gelehnt. Neri würde immer weiter fragen und keine Ruhe geben.
Riccardo setzte sich auf einen Stein, schnallte sein Gewehr ab und legte es neben sich. Auch Neri setzte sich.
Der Himmel wurde immer heller.
Es war vielleicht die längste Rede seines Lebens, als er Neri von seinem Wintergast aus Deutschland erzählte, der in einem kalten, feuchten Zimmer hauste, wie ein Besessener Italienisch lernte und über seinem Bett ein Ölbild von Sofia hängen hatte.
»Wo hat er das Bild her, verdammt noch mal?«, fragte er und sah Neri an. »Das gibt es doch nicht! Er landet hier durch Zufall und hat ein Ölbild meiner Tochter dabei! Neri, sag mal selbst, das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!«
Neri grinste amüsiert. Er sah da überhaupt kein Problem. »Dinge gibt’s, die gibt’s gar nicht«, meinte er, »und manche Zufälle sind viel zu plump, um sie zu erfinden. Dabei sind sie wahr. Ich sag dir, da gibt es sicher einen ganz banalen Grund. Vielleicht hat dein Gast – wie heißt er eigentlich?«
»Jonathan.«
»Also, vielleicht hat dieser Jonathan das Bild in Arezzo auf dem Antikmarkt gesehen. Ganz zufällig. Die Ähnlichkeit mit Sofia ist ihm sofort aufgefallen, und er hat es gekauft. Das ist alles. Da würde ich mir an deiner Stelle überhaupt keine Gedanken machen. Ich hab mal bei einem Trödler in Rom ein Bild von einer Frau gefunden, die sah aus wie meine Schwiegermutter.«
»Und? Was hast du gemacht?«
»Ich hab es gekauft und zu Hause verbrannt. So weit kommt es noch, dass ich mir meine Schwiegermutter übers Bett hänge!« Neri lachte.
»Aber warum hast du es denn überhaupt gekauft?«
»Weil ich auf den ersten Blick die Ähnlichkeit absolut faszinierend fand. Und auf den zweiten Blick, zu Hause, ging sie mir schon auf die Nerven.« Neri stand auf und gab Riccardo einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. »Komm, wir gehen. Es ist alles in Ordnung. Aber warum fragst du Jonathan nicht einfach, wo er das Bild herhat?«
»Er hat es verhüllt. Ich habe einen Wasserhahn repariert, und das Tuch war runtergefallen. Er weiß nicht, dass ich es gesehen habe. Vielleicht wird er wütend, wenn er es erfährt, denn sonst würde er es ja nicht verstecken.«
Neri nickte. »Dann vergiss das Ganze. Wichtig ist ja nur, dass Sofia endlich einen Freund hat. Etwas Besseres konnte ihr doch gar nicht passieren, oder?«
»Nein. Etwas Besseres konnte ihr nicht passieren.« Riccardo wiederholte es, aber überzeugt war er davon nicht. Neri hatte ihn lediglich ein wenig beruhigt, die Zweifel waren geblieben.
FÜNFZEHN
Unmittelbar nach Weihnachten kam der Schnee.
Gegen Mittag war davon noch nichts zu ahnen, der Himmel war leicht bedeckt, und es sah aus, als würde jederzeit die Sonne herauskommen. Aber es war wesentlich kälter geworden.
Jonathan ging in die Küche. Sofia stand an der Spüle und wusch das Mittagsgeschirr ab. Sie tat es langsam und bedächtig, fuhr mit der Hand über jeden Teller, bis sie nirgends mehr einen kleinen Widerstand spürte, dann war der Teller sauber. Und sie täuschte sich selten. Seit Jonathan oftmals Gast in der Küche der Valentinis war, spülte sie häufiger. Es war ihr unangenehm, dass die Pfannen, die an der Wand hinter dem Herd hingen, klebten, und sie roch den Schimmel auf der Marmelade und im Pecorino. Tastend und schnüffelnd arbeitete sie sich langsam durch die gesamte Küche und schaffte so Stück für Stück mehr Sauberkeit. Aber es war mühselig und kostete viel Zeit.
»Kommst du mit?«, fragte er sie. »Ich fahre nach Siena.«
Ein Strahlen ging über ihr Gesicht. »Ja. Gern! Hat es einen bestimmten Grund?«
»Nein. Ich habe Lust, ein bisschen zu bummeln, und dann möchte ich dir etwas kaufen. Irgendetwas Schönes zum Anziehen, du trägst ja fast nur die billigen Sachen vom Markt, und vielleicht finden wir ja mal etwas ganz Besonderes für dich.«
»Oh!« Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte, stand da wie ein kleines Mädchen, das sich schämt.
Zwanzig Minuten später fuhren sie los.
»Es riecht nach Schnee«, sagte Sofia, als sie durch eine Zypressenallee fuhren.
»Kannst du dich daran erinnern, wie es ist, wenn es schneit?«
»Ja«, sagte sie, »ja, ein wenig. Aber viel besser weiß ich, wie der Schnee riecht und wie sich die ganze Welt anhört, wenn er alles bedeckt. Dann ist Stille. Kein Vogel singt, und der Wind kapituliert. Die Automotoren schnurren leiser, weil niemand schnell fährt, und die lauten Fahrgeräusche, wenn
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