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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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die Luft zwischen Reifen und Asphalt zerdrückt wird, gibt es nicht mehr. Weil die Luft durch den weichen Schnee entweichen kann.«
    »Das wusste ich gar nicht.«
    »Doch, so ist es.«
    »Und das fällt dir ein, wenn du an den Schnee denkst?«
    »Nein. Ich denke an ein weißes, weiches Tuch, das die Zeit anhält und alles erstickt, was laut und hektisch ist. Und dann höre ich die Kehlkopfgesänge der Inuit und die wehmütige Musik eines Akkordeons, sehe Adler um schneebedeckte Berge kreisen und höre Wölfe heulen. Das passiert alles nicht in diesem Land, sondern weit oben im Norden, dort, wo ich nie sein werde.«
    »Vielleicht fahre ich eines Tages mit dir dorthin.«
    Sofia lächelte.
    Als Jonathan bei San Gusmè auf die Asphaltstraße abbog, sagte sie leise: »Ich habe mich in dich verliebt, Jonathan.«
    Er antwortete nicht, drückte aber ihre Hand.
    Vor zwei Tagen hatte er bei seiner Bank angerufen und erfahren, dass die fünfhundert Euro, die Jana überwiesen hatte, angekommen waren. Sein erster Gedanke war, die italienischen Märchen in Blindenschrift abzuholen und zähneknirschend die zweihundertsiebzig Euro dafür zu zahlen, aber dann hatte er es sich anders überlegt. Ein schönes Kleid war sicher eine bessere Idee.
    Anderthalb Stunden ging Jonathan mit Sofia von Geschäft zu Geschäft, aber er fand nichts, was ihm gefiel.
    Kurz bevor Sofia streiken und protestieren wollte, denn sie war müde und hatte einfach keine Lust mehr, hielt Jonathan einen Hosenanzug in der Hand, der ihm auf Anhieb gefiel. Er war blaugrau, glänzte ein wenig, und die Hose war schmal geschnitten.
    »Zieh den mal an«, meinte er, »er ist wunderschön.«
    Sofia befühlte den Stoff. »Was ist das? Seide?«
    »Achtzig Prozent Baumwolle und zwanzig Prozent Seide. Bitte probier ihn an, bitte!«
    Er führte sie in eine Umkleidekabine und zog den Vorhang zu.
    Als sie wieder herauskam, hielt er den Atem an. Genau so hatte sie ausgesehen. Genau so.
    Er musste sich setzen, weil ihm schwindlig wurde. Giselle hatte einen ähnlichen Hosenanzug an seinem Geburtstag angehabt. Tausendmal hatte er sich gewünscht, die Zeit zurückdrehen, alles ungeschehen machen zu können und mit ihr zu tanzen. Den Geburtstagstanz mit seiner schönen Tochter.
    Und gleichzeitig drängte sich das Bild aus der Pathologie auf. Sie hatten sie noch nicht untersucht, und noch lag sie in ihrem silbernen Hosenanzug auf dem ebenfalls silbernen Seziertisch. Er hatte erwartet, dass sie nackt sein würde, nur mit einem weißen Laken bedeckt, aber sie sah aus, als schliefe sie nur und würde jeden Moment die Augen aufschlagen, sich aufrichten, lächeln und mit nach Hause kommen. Wäre da nicht das Blut gewesen. Das getrocknete Blut in ihrem Ohr und in ihren Nasenlöchern, das Tuch über ihrem zerschmetterten Gesicht und das schwitzige, verklebte Haar, das mittlerweile genauso steif war wie ihr gesamter toter Körper.
    Eine Verkäuferin gesellte sich dazu. »Der Hosenanzug steht Ihrer Tochter ausgesprochen gut.«
    Jonathan schreckte aus seinen Gedanken auf.
    »Gut«, sagte er und lächelte. »Dann kaufe ich ihn.«
    Und zu Sofia meinte er: »Bitte behalte ihn an!«
    Als sie wieder auf der Straße standen, nahm Jonathan Sofias Hand. »Du siehst in diesem Anzug wunderschön aus! Zieh ihn an, so oft wie möglich. Immer, wenn wir beide etwas Besonderes vorhaben.«
    »Ja, Jonathan.« Und dann sagte sie: »Danke.«
    Sie setzte ihre Sonnenbrille auf, die sie immer trug, wenn sie nicht in einem geschlossenen Raum war, umarmte ihn, und dann küsste sie ihn.
     
    Als Jonathan und Sofia Hand in Hand über die Piazza del Campo gingen, fing es an zu schneien. Sie standen in der Mitte des Platzes, Sofia schmeckte den Schnee auf ihren Lippen, und Jonathan konnte sich nicht sattsehen an dem unwirklichen Bild. Große weiße Flocken wirbelten scheinbar immer schneller und dichter zwischen den mit warmem gelbem Licht beleuchteten Häusern und blieben liegen. Sie schmolzen nicht, und innerhalb kürzester Zeit war die Piazza wie mit einem weißen, weichen Tuch bedeckt.
    Er hielt sie im Arm, als sie langsam quer über den Platz gingen. Und es war stiller, schöner und inniger als ein Tanz.
    »Ich habe mich nicht in dich verliebt, Sofia«, meinte Jonathan leise und strich ihr über die Wange, »ich liebe dich. Und zwar schon sehr, sehr lange.«
    »Das macht mich sehr glücklich«, flüsterte sie.
    Wenn er das so sagte, überlegte sie, hatte er sich offensichtlich schon am ersten Abend in sie verliebt. Und

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