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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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Schuldfrage zu streiten. Es war egal und jetzt einfach nicht mehr wichtig. Morgen würde alles vorbei sein, und Jana würde in seinem Leben keine Rolle mehr spielen. »Vielleicht war ich vor fünf Monaten in einer Situation, in der ich mich nur so und nicht anders verhalten konnte. Ich weiß es nicht, und ich will es auch gar nicht wissen, wenn ich ehrlich bin.«
    Jana kratzte mit ihren gepflegten, langen Fingernägeln einen imaginären Fleck von ihrer Hose. »Du bist dünner geworden«, meinte sie, »und es steht dir richtig gut. Bitte, erzähl mir, wo und wie du lebst.«
    »Ich habe in der Toskana eine kleine, sehr einfache Wohnung gemietet. Weit ab vom Schuss, und dort habe ich meine Ruhe.«
    »Du lebst dort allein?«
    »Ja. Das heißt, die Familie, die die Wohnung vermietet, wohnt auch dort.«
    Sie wartete einen Moment, und dann fragte sie: »Wer ist die Frau auf dem Foto in deiner Brieftasche?«
    »Ach!« Jonathans Nasenflügel bebten von Zorn. »Du schnüffelst in meinen Sachen herum?«
    »Himmelherrgott nochmal, ja! Was soll ich denn sonst tun? Wir waren fast fünfundzwanzig Jahre verheiratet, und plötzlich erfahre ich nichts mehr von dir? Noch nicht einmal, ob du eine andere Frau kennengelernt hast? Das ist doch das Mindeste, was du mir erzählen könntest! Ich bin doch nicht deine Feindin, Jonathan, ich will einfach nur wissen, was in dir vorgeht!«
    »Ich werde die Frau auf dem Foto heiraten.«
    Jana verschlug es die Sprache. »Du bist verrückt!«
    »Ganz und gar nicht.«
    Jana war fassungslos. »Sie sieht aus wie Giselle«, flüsterte sie nach einer langen Pause, und Tränen schossen ihr in die Augen. »Du heiratest deine Tochter!«
    Jonathan schwieg. Er stand auf und sah aus dem Fenster.
    »Jonathan, bitte! Rede mit mir!«
    »Ich wüsste nicht, worüber.«
    »Liebster, du bist krank! Du kommst allein nicht mehr klar, auch wenn du sonst wohin fliehst und dich verkriechst. Bleib hier und hol dir Hilfe. Geh zu einem Therapeuten, und wir beide fangen noch einmal ganz von vorn an. Es lag doch nur an Giselles Tod, sonst wären wir heute noch glücklich. Und ich bin davon überzeugt, dass wir wieder miteinander klarkommen, wenn du deinen Kummer überwunden hast. Bitte, Jonathan, versuche es doch wenigstens!«
    Jonathan drehte sich um. »Welchen Kummer?«, fragte er und lächelte.
    Jana spürte, dass ihr eiskalt wurde. Ich komme gar nicht mehr an ihn ran, dachte sie, er ist schon viel zu weit weg. »Lass uns mit der Scheidung noch warten«, bemerkte sie mutlos, »und lass uns nochmal alles überdenken.«
    Jonathan lachte nur. »Ich komme nicht mehr zurück, nie mehr. Wann begreifst du das endlich?«
    Jana resignierte. Sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte, und sah auf die Uhr.
    »Der Friedhof ist noch geöffnet. Komm, lass uns wenigstens ein letztes Mal gemeinsam zu ihrem Grab gehen.«
    »Nein«, sagte Jonathan knapp. »Ich weiß nicht, was ich da soll.«
    Er ging aus dem Zimmer, und Jana fiel erst jetzt auf, dass sie ihm heute Abend noch nicht einmal etwas zu trinken angeboten hatte.
     
    Am nächsten Morgen um zehn Uhr fünfundvierzig wurden Jana und Jonathan Jessen geschieden. Dreihundertfünfzigtausend Euro hatte Jana auf Jonathans italienisches Konto überwiesen.
    Jonathan wirkte gelöst und heiter, als sie aus dem Gerichtsgebäude kamen. »Pass auf dich auf, Ballerinchen«, sagte er und küsste sie auf die Wange. »Ich wünsche dir noch ein glückliches Leben.«
    Damit drehte er sich um und winkte einem Taxi, um zum Flughafen zu fahren.
    Im Mai sollte die Hochzeit stattfinden. Amanda hatte sich vorgenommen, das Fest zu organisieren. Statt um zwölf stand sie bereits um zehn auf, fing an zu telefonieren und schrieb sich genau auf, mit wem sie gesprochen hatte, denn nachmittags, nach der ersten Flasche Wein, konnte sie nicht mehr sagen, ob sie die Tondellis, Marinis und Pasquettis eingeladen, Festzelt, Hochzeitsessen und die Band, die Tanzmusik und italienische Schlager spielen sollte, bestellt hatte oder nicht.
    »Hör zu«, sagte sie zu Don Lorenzo, dem Pfarrer, »ich möchte ein außergewöhnliches Hochamt erleben. Stimmungsvoll und festlich. Nicht dass du diesen Einheitsbrei herunterleierst wie jeden Sonntag. Ich möchte, dass meine beiden Kinder die Messe bis an ihr Lebensende nicht vergessen. Meinst du, du kannst das?«
    Don Lorenzo ärgerte sich maßlos über diese unverschämte Frage, ließ es sich aber nicht anmerken.
    »Wie lange warst du nicht mehr in der Kirche, meine Liebe?«, fragte er.

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