Der Menschenraeuber
Engel, zart, durchsichtig und irgendwie nicht von dieser Welt.
Jonathan war so überwältigt, dass er spontan vor ihr auf die Knie fiel. Ein Raunen ging durch die Kirche. Sofia war das unangenehm. Daher nahm sie seine Hand und zog ihn wieder hoch.
Er küsste sie auf die Stirn, und sie wandten sich dem Altar zu.
Der Organist war ein Kirchenmusiker aus Arezzo und offensichtlich von Don Lorenzo bestens über Amanda und ihre Wünsche informiert, denn er spielte, als ginge es um sein Leben: laut, pathetisch und viel zu viel.
Aber auch Don Lorenzo ließ sich nicht lumpen und predigte, wie er schon ewig nicht mehr gepredigt hatte. Er philosophierte, was das Zeug hielt, redete vom größten Geschenk, das der Mensch von Gott empfangen könne, nämlich jemandem zu begegnen, mit dem man das Leben teilen wollte. Er redete von Wundern und vom Schicksal und zitierte das »Hohe Lied der Liebe«, ohne es als Bibelzitat deutlich zu machen und die Quelle zu nennen.
»Wenn ich die Sprache von Menschen und Engeln sprechen könnte, aber die Liebe nicht hätte, wäre ich ein dröhnender Gong. Eine lärmende Klingel«, sagte er, »und wenn ich weissagen könnte, alle Geheimnisse wüsste, jede Erkenntnis besäße, alle Glaubenskraft hätte und Berge versetzen könnte, aber die Liebe nicht hätte, wäre ich nichts.«
»Bravo«, murmelte Amanda.
»Und wenn ich all meinen Besitz den Armen schenkte und mich selbst aufopferte und verbrennen ließe, aber die Liebe nicht hätte, nützte es mir nichts.«
Amanda gähnte herzhaft, dann fielen ihr die Augen zu, und sie schlief ein.
»Die Liebe ist geduldig und gütig. Sie kennt keinen Neid, sie macht sich nicht wichtig, sie bläht sich nicht auf, sie ist nicht taktlos und trägt Böses nicht nach, sie freut sich, wenn die Wahrheit siegt, und glaubt und hofft in jeder Lage. Die Liebe wird niemals enden. Glaube, Hoffnung und Liebe wird es immer geben, aber die größte unter ihnen ist die Liebe.«
Die eigentliche Trauung verlief ruhig und unspektakulär, Sofias »Sì« war so leise, dass es außer Jonathan und Don Lorenzo niemand hörte. Sie steckten sich gegenseitig die Ringe an, küssten sich, unterzeichneten die Heiratsurkunde und waren Mann und Frau.
»Wie war die Predigt, Riccardo?«, erkundigte sich Amanda, als sie aus der Kirche kamen. »Ich hab nicht alles mitgekriegt.«
»Gut. Alles gut«, antwortete Riccardo einsilbig und dachte daran, dass die Liebe geduldig und gütig ist. Das hatte Don Lorenzo gesagt, und das hatte ihm gefallen.
Noch nie hatte es auf La Passerella ein so großes Fest gegeben, Sofia konnte sich jedenfalls an kein einziges erinnern.
Aber es war nicht ihr Fest, nicht der schönste Tag ihres Lebens – es war Amandas Auftritt. Amanda aß und trank mehr und redete lauter als alle anderen. Sie sonnte sich in der Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwurde, und scheuchte die Bedienungen, wenn sie sah, dass irgendein Glas nicht mehr gefüllt war.
Sofia stand allein und etwas verloren zwischen all den Menschen, lächelte unentwegt, ohne zu wissen, wer ihr Lächeln sah, stand den Geräuschen, die auf sie einstürmten, hilflos gegenüber, und auch ihr Geruchssinn ließ sie im Stich, weil er einfach überfordert war. Beinah jeder, der ihr die Hand gab, sie umarmte, küsste, ihr gratulierte, Glück, viele Kinder und ein langes Leben wünschte, roch nach Parfum, Eau de Toilette, Aftershave, aufdringlichem Deodorant oder beißender Billigseife. Dazu die Kochdünste, der Duft von Knoblauch und Basilikum, gebratenem Lamm und geschmorten Zwiebeln, und ab und zu trug der Wind, der sich seit dem stürmischen Morgen sehr abgeschwächt hatte, einen Hauch Lavendel herüber, der an der Schmalseite des Hauses üppig blühte.
Plötzlich legte sich ihr eine Hand auf die Schulter. Schwer und rau, und sie nahm den Geruch nach feuchter Erde und verbranntem Holz war. Riccardo.
»Mein Kind«, sagte er leise, »Bambina, Carissima, ich lasse dich gar nicht gerne gehen.«
»Aber ich bleibe doch hier, Bappo, ich gehe doch nicht weg!«
»Doch. Du gehörst jetzt einem anderen. Du wirst ihn um Rat fragen, nicht mich. Du wirst mit ihm reden, nicht mit mir.« Seine Stimme klang belegt.
»Wir haben nie viel miteinander geredet.«
»Nein, das haben wir nicht.«
»Das ist schade.«
»Ja, das ist sehr schade.«
Beide schwiegen.
Riccardo seufzte. »Bist du glücklich?«
»Ja, ich bin glücklich.«
»Liebst du ihn?«
»Natürlich liebe ich ihn.«
Und wieder entstand eine Pause.
»Und du? Bist
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