Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
sich wie Möwengeschrei und Geschnatter anhörte. Endlich, nach langem Zögern und Hunderten von Gedanken, die durch ihren Kopf geschossen waren, wagte sie es, die Tür so leise wie möglich zu öffnen.
Nach und nach erkannte sie eine Landschaft. Einen See, dessen |433| Ufer nicht weit entfernt lag. Ein Blitz nach dem anderen traf draußen aufs Wasser, schreckte die Vögel auf und erleuchtete das andere Ufer, wo ein Hochsitz war. Sie kannte die Gegend. Wenn sie sich nicht völlig täuschte, befand sie sich am Årslev Engsee. Bo und sie waren hier einige Male spazieren gegangen. Kurzerhand beschloss sie, ihm eine Nachricht zu schicken. Ihr Telefon zeigte viele ungelesene SMS an, wahrscheinlich von ihm, und sie versuchte, sich seine Wut und Sorge vorzustellen, brachte in diesem Moment aber nicht die Kraft dafür auf.
Rechter Hand lagen zwei Gebäude. In dem einen, das wie ein Bootshaus aussah, brannte Licht. Das andere lag im Dunkeln, doch sie konnte schemenhaft zerborstene Fensterscheiben in einem verfallenen Gebäude erkennen, das einem alten Lagerhaus glich. Es hatte eine große Schiebetür aus einem plexiglasähnlichen Material, doch auch sie wies an einigen Stellen Sprünge auf, als hätten Kinder Steine dagegengeworfen. Über dem Eingang baumelte ein Schild. Sie musste ganz nah herantreten, um es zu entziffern: Marius Jørgensen & Söhne.
Schnell verschwand sie im Schatten eines Brennholzstapels, der mit einer Plane abgedeckt war, als sich die Tür zum Bootshaus öffnete und die gebückte Gestalt in Richtung der Schiebetür ging. Sie hielt den Atem an, als die Tür mit einem scheppernden Geräusch zur Seite glitt und der Mann im Gebäude verschwand, ohne sie wieder zuzuschieben. Er hielt etwas in der Hand, was sie nicht erkennen konnte. Schlimmstenfalls eine Pistole, vermutete sie. Sie musste darauf vorbereitet sein, dass er bewaffnet war.
Sie schlich näher heran, als sie seine Schritte verschwinden hörte. Was war das für ein Ort?
Jetzt schaltete er das Licht an. Sie stand im Schatten der Tür und sah, wie eine nackte Glühbirne einen Teil der Halle erleuchtete, während alles andere im Dunkeln verschwand. Sie ahnte die Konturen länglicher Kästen, viele davon lagen wild durcheinander, als hätte die Hand eines Riesens sie wahllos verstreut. |434| Es waren Särge. Ein Sargdepot. Allerdings ein ziemlich armseliges, denn es regnete an mehreren Stellen durchs Dach, und der Wind pfiff durch die Halle.
Möglicherweise waren es aussortierte Särge, die aus irgendeinem Grund alt und unbrauchbar waren. Zwischen all dem Regen und der Feuchtigkeit vernahm sie einen leichten Brandgeruch. Sie starrte nahezu blind in den Raum hinein und konnte alten Ruß erkennen, wo möglicherweise einmal Flammen an den Wänden geleckt hatten. Vielleicht hatte es in dem Lager gebrannt, und der Eigentümer hatte seither nicht aufgeräumt. Das konnte eine Erklärung sein.
Ein Blitz erleuchtete den Himmel, und sie sah auf. An mehreren Stellen fehlten Dachziegel. Einige Fenster waren mit rissigem, zugeschnittenem Plexiglas abgedichtet.
Der Mann betrat eine Ecke der Halle und ging etwas außerhalb des Lichtkegels in die Hocke. Sie konnte nicht erkennen, was er tat, aber sie hörte seine Stimme.
»Hast du Hunger?«
Seine Frage wurde nicht beantwortet. Dicte kniete sich hin und krabbelte schließlich auf allen vieren tiefer in die Halle. Nun konnte sie es sehen: Er sprach in einen Sarg hinein. Sie vernahm ein leises Jammern. Sie wagte es nicht, aufzustehen und genauer hinzusehen, doch ihr Gehör verriet ihr, dass er die Person nun heraushob und in die gegenüberliegende Ecke trug. Dicte duckte sich auf den Zementboden.
»Jetzt iss schon, zum Teufel. Du kannst es.«
Seine Stimme klang gereizt. Ein Gegenstand klackte gegen einen weiteren. Ein Löffel? Das war es sicher, was er in der Hand gehalten hatte. Einen Löffel und eine Schale mit Essen. Keine Pistole.
»Du musst gesund werden. Sonst können wir unser Spielchen gar nicht weiterspielen.«
Sie lauschte, wie er seine Gefangene zwangsfütterte. Dann hörte sie ihn das Essen und den Löffel auf dem Zementboden abstellen. Das Jammern der Frau wurde nun lauter.
|435| »Doch. Du musst. Du gehörst mir. Ich kann mit dir machen, was ich will. Du gehörst nicht länger ihm.«
Ihr Schrei war das Herzzerreißendste, was sie je gehört hatte. Er kam aus einem Ort des Leidens, der ihr Vorstellungsvermögen überstieg. Er war nicht laut, denn die Frau hatte keine Kräfte mehr, um laut zu
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