Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
die Angehörigen so sehr an ihren Toten hängen!«
Er holte Luft. Das Blut tropfte von seiner Hose, doch er bemerkte es nicht. Einen kurzen Moment glaubte sie, er mache einen geschwächten Eindruck. Er hatte viel Blut verloren.
»Also hat Claes dich damit beauftragt, Mette umzubringen, weil sie euren Geschäften auf der Spur war. Und du hast den Auftrag wie gewohnt erledigt. Du hast sie in Bays Wohnung betäubt, sie beim Bestatter ermordet und ihr die Augen und Knochen entnommen, wie du es bereits von deinen Leichen kanntest. Dann hast du sie zum NRGI-Park transportiert und auf dem Parkplatz platziert, während sich drinnen alle das Spiel ansahen. Und dann kam Bay?«
Er nickte. Mittlerweile wirkte er müde. Seine Augen wurden von einem milchigen Schimmer getrübt. Ob sie es wagen konnte, ihr zweites Messer hervorzuholen?
Das Messer glitt ihm aus der Hand, aber er schien es nicht zu bemerken. Es traf auf dem Boden auf und kam einige Meter |438| schräg hinter ihm zum Liegen. Sie überlegte kurz, ob sie hinterherhechten sollte, doch es lag außerhalb ihrer Reichweite.
»Arne überraschte mich bei der Arbeit, als er an jenem Sonntag aus seinem Suff erwachte. Er war mir bis zum Stadion gefolgt und wurde Zeuge, wie ich sie dort ablegte.«
Charon rang nach Luft. Seine Stimme klang gereizt.
»Er drohte mir damit. Wollte mehr Geld. Erpressung«, murmelte er. »Mein eigener Bruder. Ich hatte ihm und seinen Jungs zu so vielen Jobs verholfen. Aber er hatte einen wunden Punkt … Frauen … immer wieder Frauen. Er mochte Mette. Er begriff das große Ganze nicht. Die übergeordnete Idee.«
»Bay hatte also ein Händchen für Frauen«, resümierte sie und dachte an Bos Theorie über das Verliebtsein. »Im Gegensatz zu dir. Du warst eifersüchtig. Als du Kiki gesehen hast, wolltest du sie haben. Ist sie deshalb noch immer am Leben?«
Er richtete sich auf, doch es bereitete ihm Mühe. Dann trat er sie erneut, aber seine Kraft war nicht mehr dieselbe.
»Widerliche Journalistenschlampe. Was weißt du denn schon darüber? Sie ist eine dumme Negerfotze, sonst nichts.«
Dicte stöhnte.
»Aha, ist das so?«
In seiner Stimme lag eine weinerliche Wut.
»Sie liebt mich«, sagte er. »Natürlich liebt sie mich. Denn ich erhalte sie am Leben.«
Ein weiterer Blitz erhellte die Halle. Völlig unvorbereitet traf Dicte der Anblick, der sich nun wenige Meter hinter dem Mann offenbarte. Eine taumelnde, kleine Gestalt, nackt und von oben bis unten mit Blut beschmiert. Ihr Gesicht war verzerrt, wie in den letzten Augenblicken eines schmerzvollen Todeskampfs.
Die Gestalt beugte sich herab. Einen Moment lang hockte sie auf dem Zementboden und schwankte. Dann richtete sie sich unter großer Anstrengung wieder auf, wobei sie einen Laut ausstieß, der Charon herumwirbeln ließ. Kiki stand vor ihm mit erhobenem Messer. Dictes Hand bekam das zweite Messer an ihrer Wade zu fassen. Alles geschah gleichzeitig, wie ein perfekt |439| einstudierter Tanz: Er griff Kikis Arm und drückte sie mit einem bestialischen Gurgeln zu Boden, das klang, als habe sich die ganze Welt gegen ihn verschworen. Dicte wog das Messer in ihrer Hand; ihr ganzer Körper schmerzte. Mit erhobenem Arm warf sie sich nach vorne, sprang auf den Rücken des Mannes und bekam sein Haar zu fassen. Er versuchte sie abzuschütteln, doch es gelang ihm nicht. Dann spürte sie, wie ihr Messer etwas Weiches durchschnitt und eine warme Flüssigkeit über ihre Hand lief.
Mit dem Messer im Hals ging er zu Boden, das Blut und seine Lebensgeister verließen ihn.
Sie sackte auf dem harten Zement zusammen. Ihre Hand bekam die der anderen Frau zu fassen, und schließlich bettete sie Kiki Laursens blutigen Kopf auf ihrem Schoß. Ihre Lippen bewegten sich, und Dicte beugte sich hinab, um sie zu verstehen.
»Friere«, murmelte sie. »Kalt.«
Dicte tastete mit ihren Händen im Halbdunkel nach einer Decke oder einem Sack, konnte jedoch nichts anderes finden als einen alten Schuh, jenen Gegenstand, gegen den sie zu Beginn gestoßen war, vermutete sie. Dann zog sie mit einiger Anstrengung ihre Jacke und ihren Pullover aus und legte sie vorsichtig über den zitternden Körper.
Ein weiterer Blitz durchzuckte den Himmel. Er erleuchtete die Frau bei ihr und den toten Charon. Doch sein Schein fiel auch auf etwas anderes. In dem kurzen Moment, den der Blitz andauerte, starrte Dicte auf den Schuh: eine kleine Sandale, rosafarben und mit dünnen Riemchen, die mit Schmucksteinen besetzt waren.
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