Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
schreien. Dennoch traf die Frequenz mitten ins Herz. Ohne nachzudenken, richtete Dicte sich halb auf und trat dabei gegen etwas, das geräuschvoll über den Boden schlitterte.
»Was zum Teufel …?«
Er stoppte das, was er angefangen hatte, und fing an, den Raum abzusuchen. Sie hielt den Atem an. Vielleicht würde er ja glauben, das Geräusch sei von einer Katze oder Ratte verursacht worden? Er beugte sich hinab und hob den Gegenstand auf, gegen den sie gestoßen war. Sein Misstrauen schien von Neuem geweckt, denn jetzt suchte er intensiver.
»Wer ist da?«
Dicte fischte nach dem Messer in ihrem Gürtel und zog es vorsichtig heraus. Er näherte sich. Sie konnte seine Stiefel und seine Hose sehen. Jetzt stand er direkt vor ihr.
»Wer verdammt noch mal bist du? Los, steh auf!«
Sie stieß im selben Moment zu, als er nach ihr trat. Sie zielte auf seinen Oberkörper, aber seine Bewegung kam ihr zuvor, und das Messer bohrte sich stattdessen so tief in seinen Oberschenkel, dass es steckenblieb. Er wankte einige Schritte nach hinten und griff sich ans Bein. Blieb einen Moment lang stehen und starrte sie an. Dann fasste er das Messer und zog es heraus. Mit erhobener, blutiger Klinge kam er jetzt auf sie zu.
»Du bist die Journalistin«, hörte sie ihn sagen. »Arne hat von dir gesprochen. Bist du allein hier?«
Er sah sich verstohlen um. Sie versuchte Zeit zu gewinnen, um an das Messer unter ihrem Hosenbein zu gelangen, doch er war schneller und nahm Anlauf. Als sein Tritt ihren Kiefer traf, wurde ihr schwarz vor Augen, und sie fiel hintenüber. Er stellte sich über sie, jeweils ein Bein rechts und links von ihrem Körper.
|436| »Hallo, Charon.« Sie hatte keine Ahnung, warum sie das sagte. Es war ihr einfach so herausgerutscht. »Hast du in der letzten Zeit viele Tote über den Fluss gebracht?«
Er fletschte die Zähne zu einer Art Grinsen.
»Ich soll dich von deinem Stiefvater grüßen«, log sie. »Es tut ihm sehr leid. Er hat von deiner Mutter erzählt.«
Das Gesicht des Mannes verdunkelte sich, aber sie konnte den Ausdruck nicht interpretieren.
»Was zum Teufel geht dich das an?«, fragte er heiser.
Er trat erneut zu. Dieses Mal in ihre Rippen. Sie wurde von der Wucht gegen die kalte Wand geschleudert. Der Schmerz betäubte sie, und sie bekam keine Luft mehr.
»Du verdammte Drecksau.«
»Winkler«, sagte sie angestrengt und schmeckte Blut in ihrem Mund. »Er sagte, du seist sehr begabt. War das deine Idee mit den Leichen? Ihnen die Augen herauszunehmen und ihnen Glasaugen einzusetzen – anstelle von Münzen? Und sie zur Ablenkung neben dem Stadion zu platzieren, damit der Verdacht auf Bay und seine Sippe fiel?«
Er starrte sie an. Der Anflug eines Lächelns huschte über seine Lippen. Er sprach völlig normal, ganz ruhig und sachlich.
»Die Idee stammte von Claes. Anfangs. Die Fälle im Kosovo und in Polen. Er wollte etwas Spektakuläres erreichen. Etwas, das anderen klarmachte, wie ernst es uns war.«
»Anderen? Die in den Ablauf involviert sind, meinst du? Die Abnehmer? Kuriere?«
Er nickte. »Sie sollten wissen, was passiert, wenn man aussteigen und zu den Behörden gehen will. Und dies war eine Sprache, die alle verstanden.«
»Und Mette?«
Er stieß zum Zeichen seiner Verachtung Luft durch die Zähne.
»Claes war sauer wegen der Geschichte mit Mette. ›Nicht in Dänemark‹«, sagte er mit einem Tonfall, der vermutlich Claes Bülows Stimme imitieren sollte. »›Du wirst doch wohl verstehen, dass so etwas nicht in Dänemark passieren darf.‹«
|437| »Woher kennst du Claes Bülow?«
»Den kenn ich schon lange. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Dann war er wegen einer Lungenkrankheit im Krankenhaus, und wir haben uns dort wiedergetroffen. Er erzählte mir von seinem Projekt mit dem Nabelschnurblut. Wir hatten beide großes Interesse an den unendlichen Ressourcen, die der menschliche Körper bereitstellt.«
»Und die Angehörigen sind euch egal«, sagte sie.
Er ging in die Hocke, mittlerweile von Eifer gepackt. Sie konnte seinen fauligen Atem riechen.
»Du kapierst das nicht. Wie die meisten. Es geht um tote Menschen, verdammt noch mal. Tote! Die spüren rein gar nichts mehr. Sie liegen einfach nur da, und all ihr Nutzen geht verloren, weil einige wohlmeinende Angehörige zu sentimental sind. O Gott, bloß nicht! Bloß nicht die Augen, die Haut, die Knochen … Nehmt ihnen bloß nichts davon weg! Als machte das noch einen Unterschied. Es gibt Menschen, die sterben müssen, weil
Weitere Kostenlose Bücher