Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
gefragt.
Der Mann mit fahler Gesichtshaut, die von einem harten Leben erzählte, und einem kleinen Cairn-Terrier an der Leine hatte sie mit einem wissenden Blick angesehen.
|155| »Nein, in Zivil natürlich. Die glauben, dass man sie nicht erkennt. Dabei riechen die schon von weitem nach Bullen.«
Die Kälte kroch in ihr hoch, und der Ledersitz fühlte sich an wie aus Eis. Der Sommer hatte bisher nur aus Regen, Wind und Wolkenbrüchen bestanden. Es hätte sie nicht überrascht, wenn die Blätter jetzt schon von den Bäumen fallen würden.
Dann fasste sie einen Entschluss, startete den Motor und wendete den Wagen. Sie fuhr hinunter zum Hafen und von dort weiter die Nørrebrogade hoch, bog dann in den Nørre Boulevard ein und von dort in die Peter Sabroesgade.
Sie parkte vor dem Gebäude Nummer 9 und blieb auch dort eine Weile im Wagen sitzen und beobachtete, wie die Menschen hinter den Glastüren verschwanden, während andere das Gebäude verließen, zu ihren Autos gingen und wegfuhren.
Sie zündete sich eine Zigarette an und kurbelte das Fenster ein Stück herunter, obwohl ihr kalt war. Warum saß sie nicht zu Hause bei Mann und Kindern, sah fern und führte ein normales Leben, damit sie sich am nächsten Tag mit den Kolleginnen im Büro über die verschiedenen TV-Serien unterhalten konnte? Woher kam diese rastlose Suche, die sie weitertrieb, immer weiter, noch einen Schritt weiter, näher an den Abgrund?
Sie kannte sie, solange sie denken konnte. Sie war ihr Verderben und ihre Gefährtin. Ihr Schatten, wie in diesem alten Märchen.
Sie wusste nicht, welche Ursache sie hatte. Sie wusste nur, dass es sie gab und dass sie das Leben ohne sie nicht spüren konnte.
Dann drückte sie die Zigarette im Aschenbecher aus und warf sie aus dem Fenster. Sie hatte mal gehört, dass es Menschen gab, die ohne die Fähigkeit geboren wurden, Schmerz zu empfinden. Sie erinnerte sich an eine Familie, möglicherweise aus Italien, die Gegenstand bedeutender Forschungen war, weil sie alle ein besonderes Gen besaßen, das sie schmerzunempfindlich machte. Eine Hand auf der Kochplatte; ein Tumor im Magen; |156| ein gebrochenes Bein. Keine Reaktion, bis der Körper buchstäblich in sich zusammenbrach.
Sie öffnete die Tür und stieg aus. Der Wind zerrte an ihrer Jacke, sie musste sich am Auto abstützen, um das Gleichgewicht zu halten.
Hatte sie auch so ein besonderes Gen? Vielleicht von ihrem Vater vererbt. Ein Gen, das dazu führte, dass sie das Leben nicht auf die gleiche Weise spüren konnte wie andere Menschen. Eine reduzierte Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, nicht physisch, sondern seelisch. Die Frage war nur, wie viel eine Seele ertragen konnte, bevor sie kapitulierte.
Sie betrachtete das rote Backsteingebäude und wusste genau, dass er da drin war. Er war das von ihr erwählte Folterinstrument; scharf geschliffen und bereit, in kürzester Zeit die größtmöglichen Schmerzen zu verursachen.
Sie holte tief Luft und machte sich auf den Weg zum Haupteingang. Aber er war mehr als nur das, und möglicherweise lag darin die weitaus größere Gefahr, die ultimative Gefahr.
Sie fragte an der Information nach ihm und wurde an das Personalbüro verwiesen, in dem zwei Männer in der typischen Krankenhauskluft aus grüner Hose und grünem Kittel saßen.
»Er hat gerade einen Patienten zum Röntgen gebracht«, sagte der eine. »Wenn Sie sich beeilen, erwischen Sie ihn noch.«
Die beiden erklärten ihr den Weg in den Keller und wie sie von dort zur Röntgenabteilung kam. Als sie aus dem Fahrstuhl stieg, kamen die Wände blitzartig auf sie zu, und die Erinnerung überflutete sie. Sie hatte es vergessen. Aber sie war hier schon einmal gewesen.
Der Gang beschrieb eine Schräge, und sie kam nur langsam und vorsichtig auf ihren hochhackigen Schuhen voran. Es gab selbstredend keine Fenster, nur die roten Wände und den Linoleumboden, der wie eine Landstraße in der Mitte durch eine gestrichelte Linie geteilt war. Plötzlich hörte sie ein Rauschen und presste sich flach gegen die Mauer, als ihr ein Fahrzeug entgegenkam. |157| Ein Serviceassistent saß auf einer Art Lokomotive, an der ein Krankenbett befestigt war. Darin lag ein Kind. Sie konnte das blasse Gesicht des Kindes erkennen, das mit großer Geschwindigkeit an ihr vorbeifuhr. Und sie spürte den Luftsog des Fahrzeugs.
Wie konnte sie das nur vergessen haben?
Sie war sieben Jahre alt gewesen, und das Einzige, woran sie sich erinnern konnte, waren die Schmerzen und das hier:
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