Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
Bluse zu. Sie wusste, dass der ganze Raum nach Sex roch.
»Hallo, Charon«, sagte ihr Liebhaber und Peiniger und ignorierte das Starren des Mannes. »Darf ich dir Kiki vorstellen?«
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Kapitel 24
Sie konnte die Stiefel nicht finden und wurde panisch. Sie hatte |160| schon überall gesucht, aber irgendjemand hatte sie weggenommen. Und jetzt brauchte sie die schweren schwarzen Stiefel mit den gelben Nähten unbedingt.
Auf einmal wusste sie ganz genau, wer der Täter war: ihre Mutter. Ihre Mutter hatte die Stiefel weggetan, und das musste gerächt werden. Sie schlich sich in ihr Zimmer. Sie saß am Tisch und sah unschuldig aus. Nach den Stiefeln befragt, schüttelte sie den Kopf und behauptete, nichts von den Stiefeln zu wissen. Aber es war deutlich zu sehen, dass sie log. Sie musste getötet werden. Die Wut explodierte förmlich in ihr, als sie ihre Mutter an den Haaren packte und sie hin und her schüttelte. Sie war unerbittlich, der Körper ihrer Mutter leistete keinen Widerstand, und sie schlug den Kopf immer und immer wieder auf die Tischplatte. Je weniger Widerstand sie spürte, desto größer wurden ihre Wut und Erbarmungslosigkeit.
»Was hast du mit ihnen gemacht?«, schrie sie ihre Mutter an, bekam aber keine Antwort.
Eine Stimme aus weiter Ferne erreichte sie zusammen mit einer Berührung. Eine Hand strich ihr über den Rücken; Bo murmelte verschlafen:
»Wach auf. Du hattest einen Alptraum.«
Sie schlug ihre Augen auf.
»Wo sind die Stiefel?«
Erst als sie ihre eigenen Worte hörte, begriff sie, wie absurd das klang.
»Von uns beiden hat sie auf jeden Fall keiner an«, sagte Bo.
Sie setzte sich auf und zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, während sie ihm von ihrem Traum erzählte. Der Drang, einen anderen Menschen zu töten, war noch so stark in ihr, dass sie zutiefst erschrak. Reue und Scham folgten auf dem Fuß und ließen den Tag mit dunklen Farben beginnen.
»Glaubst du, dass ich so etwas wirklich tun könnte? Was geht da in mir vor?«
Bo blieb still liegen und wickelte ihr Haar um seine Finger. |161| Dann sah er sie mit einem Blick an, der moralisierender war, als sie es sich gewünscht hätte.
»Ich glaube, dass jeder Mensch einen anderen töten kann, wenn die Umstände entsprechend sind. Das solltest du vielleicht am besten wissen.«
»Aber es ist doch etwas ganz anderes, wenn es Notwehr ist.«
Sie dachten beide an das Ereignis, das mittlerweile einige Jahre zurücklag. Damals war sie gezwungen worden, zu entscheiden – selbst zu töten oder getötet zu werden. Er nickte.
»Na ja. Es könnte auch eine Art Notwehr sein, deine Mutter zu töten. Theoretisch gesehen.«
Sie schlug die Decke beiseite.
»Das ist ziemlich theoretisch!«
Sie sagte das wissend, dass der Traum im Kielwasser ihrer Gespräche mit Torsten und Anne seinen Ausgang hatte. War das möglich, dass die Wahrheit gleichzeitig so einfach und so ganz und gar erschreckend war? Waren die misshandelten Opfer im Kosovo, in Polen und Dänemark das Resultat eines solchen unbändigen Drangs, den inneren Befehl zu besänftigen, endlich Kontrolle über das Chaos zu bekommen? Kontrolle, indem man seine Stiefel wiederfindet oder etwas anderes erledigt, was von außen betrachtet nebensächlich wirken konnte?
Der Traum ließ sie lange nicht los, erst als sie sich auf den Weg zu einem Ehepaar machte, das ihr etwas erzählen wollte, was sie für ihre neue Serie verwenden konnte. Das war ein weiterer Nebengewinn, dass sie ab und zu die miefigen Räume der Redaktion verlassen konnte.
Jørgen und Marie Gejl Andersen waren wütend. So wütend, dass sie sich jetzt an die Presse wenden wollten. Sie hatten Dicte eine Mail geschrieben und darin von einem merkwürdigen Vorfall erzählt. Es hatte zu tun mit dem Tod des Vaters von Marie Andersen und dessen Wunsch, eine Feuerbestattung zu bekommen. Das Ehepaar wollte nicht in die Redaktion kommen, und Dicte kam es gelegen, einen kleinen Ausflug aufs Land nach |162| Harlev zu unternehmen, wo sie in einem reetgedeckten Traum von einem Bauernhaus lebten, auf dessen angrenzenden Wiesen Schafe und Ziegen grasten.
Ein schmaler Pfad führte die letzten hundert Meter zum Haupthaus, wo sie von zwei Foxterriern empfangen wurde, die sie eingehend beschnupperten. Eine Frau mit hohen Gummistiefeln und einer jägergrünen Regenjacke tauchte sogleich aus einem Seitengebäude auf, wahrscheinlich einer der ehemaligen Stallungen.
»Fleck, Borste. Hört ihr wohl auf!«
Sie kam auf Dicte zu.
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