Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
das Tunnelsystem unter dem Kreiskrankenhaus von Århus. In ihrer Erinnerung kam ihr der Aufenthalt im Krankenhaus vor wie eine unendliche Reise durch unterirdische Gänge von Gebäude zu Gebäude, von Untersuchung zu Untersuchung. Niemand wusste, was ihr fehlte. Niemand konnte herausfinden, woher die Schmerzen im Bauch kamen. Aber sie hatte geschrien. O Gott, wie sie geschrien hatte, daran erinnerte sie sich noch genau. Die Schreie und die unendlichen Fahrten durch die Gänge, hin und wieder zurück; die Decke, die über ihr vorbeisauste, abrupte Bremsmanöver, wenn es Gegenverkehr gab; das bedrohliche, klaustrophobische Gefühl, dass sie nie wieder das Licht der Sonne und die frische Luft in ihren Lungen spüren würde.
Sie holte tief Luft. Sie hätte niemals hierherkommen sollen.
Das Geräusch von schmatzenden Reifen kam näher, und um die Ecke bog ein Serviceassistent, der einen Patienten im Rollstuhl schob. Der Mann hatte einen großen, braunen Umschlag auf dem Schoß, Röntgenbilder, dachte sie und versuchte sich auf die Details zu konzentrieren. Auf die Farben und die Geräusche der Reifen des Rollstuhls, die sich immer weiter entfernten. Auf die Laute der Holzschuhe des Krankenhelfers; auf die verschiedenen Türen, an denen sie vorbeikam. Sie musste davor keine Angst mehr haben, nicht so wie früher. Die Kindheit war vorbei. Weg war sie, zum Glück. Jetzt hatte sie die Kontrolle.
Sie hörte das Geräusch von bremsenden Reifen, und plötzlich stand er direkt vor ihr. Er saß auf einer dieser Lokomotiven. Ein leeres Bett war dahinter befestigt. Sie hätte ihn in seiner grünen |158| Arbeitskluft und mit dem überraschten Gesichtsausdruck fast nicht wiedererkannt.
»Was zum Teufel machst du hier?«
Etwas an ihm war anders, aber sie wusste nicht, was es war.
»Ich suche jemanden.«
Sie stieß die Worte hervor.
»Und wen?«
Sie schluckte. Sie stand mit dem Rücken zur Wand, die sich kalt anfühlte.
»Dich.«
»Mich?«
Er brauchte einen Augenblick, um seine Fassung wiederzufinden. Dann fuhr er den Transporter an die Seite, stieg ab und kam auf sie zu.
»Habe ich es dir erlaubt, hierherzukommen?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte ihm in die Augen sehen, traute sich aber nicht.
»Ich habe mir Sorgen gemacht«, gab sie zu. »Wir hatten eine Verabredung, und du bist nicht gekommen.«
»Und?«
»Und dann habe ich deinen Nachbarn getroffen, der mir erzählt hat, dass die Polizei dich mitgenommen und wieder zurückgebracht hat und du danach zur Arbeit gefahren bist.«
Er betrachtete sie einen Augenblick lang. Er prüft mich, dachte sie. Und er überlegt, wie er mich bestrafen kann.
Seine Hand griff nach ihrem Handgelenk.
»Komm mit.«
Er zog sie in einen schlecht beleuchteten Raum, in dem es nach Medizin roch. Sie spürte seine Hände auf ihrem Körper, seinen Atem an ihrem Hals und den Druck seines Körpers gegen ihren, der ihr fast den Atem nahm. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass er vorsichtig war. Fast zärtlich hob er sie auf eine Pritsche, die an der Wand stand. Der Raum schien eher als Depot benutzt zu werden. Überall standen Kisten und Kanister übereinandergestapelt, mit Reinigungsmitteln oder |159| anderen Flüssigkeiten. Jede Menge Müll. Die Pritsche roch merkwürdig.
Sie hatten Sex, ganz gewöhnlichen Sex. Keine Drohungen, keine Peitsche und keine Schmerzen. Die einzige Spannung bestand darin, dass plötzlich jemand die Tür öffnen könnte. Hinterher saßen sie nebeneinander auf der Pritsche.
»Was wollte die Polizei denn von dir?«, fragte sie vorsichtig, während sie seine Hände betrachtete, die eine verbotene Zigarette drehten. Diese Hände waren zu vielem imstande.
»Die glauben doch echt, dass ich das war. Dass ich das Mädchen beim Stadion umgebracht habe.« Er drehte sich zu ihr. »Was glaubst du?«
»Warum solltest du damit was zu tun haben?«, entgegnete sie.
Ihre Stimme zitterte ein wenig, aber sie hoffte, dass er das nicht bemerkt hatte.
»Weil …«
Plötzlich strömte Licht herein. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriff, dass jemand die Tür aufgerissen hatte. Im Türrahmen stand ein Mann in der Kluft der Serviceassistenten.
»Was zum Teufel …?«
Er war sehr groß. Die grünen Kleidungsstücke hingen an ihm herunter, als seien sie drei Nummern zu groß in der Breite, aber dafür viel zu kurz. Sein Gesicht war länglich und von Aknenarben gezeichnet, seine Augen saßen tief in ihren Höhlen.
Schnell knöpfte Kiki den letzten Knopf ihrer
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