Der Menschenspieler
Besseren, öffnete die Fliegengittertür komplett und sagte: »Kommen Sie rein. Ich koche Ihnen einen Tee.«
Dann war sie im Haus. Licht zuckte, die überdrehte Musik eines Zeichentrickfilms war zu hören. Alex drehte sich um und sah jemanden in der Ecke im Sessel sitzen.
»Charlie?«, sagte Lydia zum Rücken des Mannes, und als er nicht antwortete, sagte sie lauter: »Charlie!«
Langsam wandte er sich um und sah seine Mutter an. Das Licht vom Bildschirm schien kränklich grün und rot auf sein Gesicht. Er öffnete langsam den Mund, sagte aber nichts.
Lydia blickte auf den Teppich hinunter. Alex sah es in ihren Augen: Sie hatte Angst vor ihrem Sohn. »Charlie, wir sind in der Küche«, sagte sie schwach. Dann zu Alex: »Kommen Sie.« Alex schaute auf Charlie, der sich inzwischen umgedreht hatte. Sie wusste, dass sie allein mit ihm sein musste, dass sie herausfinden musste, was er wusste. Es ließ sie schaudern, wie unmöglich diese Aufgabe war, und sie drehte sich um und folgte Lydia in die Küche.
Alex setzte sich an den Tisch. Lydia lief in der Küche herum, öffnete und schloss Schränke, murmelte etwas vor sich hin. Alex betrachtete die Wände. Es war der amerikanische Stil der Sechzigerjahre, wahrscheinlich unverändert seit der Zeit vor Charles Rutherfords Tod. Über der Spüle hing ein Rahmen mit einem gestickten Spruch darin: CHARLIES UND MAMAS KÜCHE .
Alex sah die Frau an. Sie dachte an Charlie im Nebenzimmer. Jetzt oder nie . »Wo ist Ihr Badezimmer, Mrs Rutherford?«, fragte sie.
Lydia zeigte es ihr, und Alex ging hinaus. Charlie saß immer noch in seinem Sessel und schaute seine Zeichentrickfilme. Sie ging langsam auf ihn zu, als nähere sie sich einem wilden Tier, nahm all ihren Mut zusammen und sagte: »Dein Dad – du vermisst ihn bestimmt sehr.« Wie idiotisch, Alex! Aber es war egal, der Mann drehte sich nicht um, rührte sich nicht.
Alex schüttelte den Kopf und ging den Flur entlang. Aufgeschoben war nicht aufgehoben, sie müsste nur die richtigen Worte finden. Ihn irgendwie erreichen. Ihn dazu bringen, ihr mehr über seinen Vater zu erzählen. Es war die einzige Möglichkeit . Die Rätsel sind ein und dasselbe.
Im Flur sah sie sich um. An den Wänden hingen Familienfotos, manche von Charles sen. Eines zeigte ihn mit einer viel jüngeren Lydia mit dem Baby auf dem Arm. Sie lächelten, aber Alex konnte nicht anders, als etwas aus ihrem Blick herauszulesen. Eine Andeutung der vor ihnen liegenden Schmerzen. Sie ging weiter.
Im Badezimmer sah sie sich in einem dreckigen Spiegel an. Was tust du, Alex? Warum bist du hierher zurückgekommen? Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht und schloss dann die Augen. Sie sah Aldiss in dieser Zelle sitzen, den Kopf in den Händen, seine Bücher vor sich. Seine neuen Informationen auf dem kalten Steinfußboden vor sich ausgebreitet, während er auf ihre Rückkehr wartete und …
Sie öffnete die Tür und verließ das Badezimmer. Sie machte einen Schritt und blieb dann stehen, etwas war ihr ins Auge gefallen.
Ein Zimmer. Es lag rechts von ihr. Ein vollgestopfter Raum, überall lagen Schachteln und Müll herum. Am Ende des Flurs hörte sie Charlies Zeichentrickfilm lärmen, und dahinter fing der Wasserkessel an zu kochen. Alex drehte sich noch einmal um, um in das Zimmer zu spähen. Könnte ich?
Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich.
Das Zimmer roch muffig. Staub fiel von gebogenen Regalbrettern. Alex zog an der Schnur einer kahlen Deckenglühbirne und sah sich den Müll an. Die Kartons waren alt und brüchig, eine Staubschicht lag darauf. Einige waren unbeschriftet, auf anderen stand: Charles . Sie nahm den Deckel eines Kartons ab und sah hinein.
Bücher. Gebundene Manuskripte, fotokopiert und penibel in dem Karton verstaut.
Aber irgendetwas hatten diese Bücher an sich. Mit zitternden Händen nahm sie eines heraus und blätterte es durch. Währenddessen dämmerte es ihr. Die langsame, schreckliche Erkenntnis, dass sie das ansah, was Shawna Wheatley und Abigail Murray vor ihrem Tod gefunden hatten. Das letzte Puzzleteil, den letzten Hinweis in Aldiss’ literarischem Rätsel.
Die Bücher waren Lexika.
Alex
Gegenwart
47
Alex rannte auf den dunklen Campus zu. Ein gutes Stück vor ihr war jemand – ein Mann. Sie rief: »Keller!«, aber er blieb nicht stehen. Sie ging weiter in die Nacht hinein.
Dann sah sie, wohin er ging, und es ließ ihr Blut gefrieren.
Er ging in Richtung der Culver Hall.
Alex dachte: Hier endet es, hier endet es, hier
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