Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Menschenspieler

Der Menschenspieler

Titel: Der Menschenspieler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Lavender
Vom Netzwerk:
Jahre mit so vielen Patienten erlebt«, fuhr Bern fort. »So viele verstörte Kinder sind in Shining City gewesen, und Morrow war bei allen herausragend. Jeden behandelte er wie seinen eigenen Sohn, als wäre dieser Junge etwas Besonderes. Einzigartig. Aber Charlie …«
    »Fahren Sie fort.«
    »Ich hatte damals gerade erst angefangen«, erklärte Bern. »Ich war jung, gerade mit dem Studium fertig. Was die Therapie angeht, war ich noch ein Anfänger, und für mich war Morrow eine Art Gott. Ich hatte an der Universität seine Artikel gelesen und angefangen, einige seiner Methoden in meinen eigenen Sitzungen anzuwenden. Alles, was er mit den Patienten tat, wollte ich nachmachen.«
    »Und haben Sie gesehen, wie er Charlie Rutherford behandelt hat?«, fragte Keller.
    Bern nickte. »Ich wollte gerade sagen, dass ich immer noch daran denke, aber die Wahrheit ist, dass ich es nicht tue. Ich habe seit langem nicht mehr daran gedacht. Inzwischen seit fast zwanzig Jahren. Vielleicht wollte ich es verdrängen. Vergessen, dass es je geschehen ist.«
    »Was ist geschehen?«
    »Er hat mit ihm den Rorschachtest gemacht«, sagte Bern. »Er zeigte Charlie die Tintenkleckse. Ich erinnere mich, wie Dr. Morrow die Karten durchblätterte, an das Geräusch, wie sie gegen seine Finger stießen. Das war das einzige Geräusch im Zimmer, denn Charlie sprach natürlich nicht. Er sprach nie. Er schrieb seine Antworten auf einen kleinen Block, den Dr. Morrow ihm gegeben hatte.«
    »Was hat er geschrieben?«, fragte Alex und sah Keller an. Der Rorschachtest – sie dachten beide daran. Was konnte das bedeuten?
    Bern drehte sich langsam und entschlossen zu ihr um. Sein Blick war in die Vergangenheit gerichtet, die Erinnerung schwer und heftig. »Grausamkeiten«, sagte er. »Jeder Klecks, jedes Bild war ein anderes, brutales Detail. Eines war Feuer, das nächste Schmerz, noch ein anderes Blut. All diese Wörter hat er auf den Block geschrieben. Manchmal kopierte er das, was Morrow ihm zeigte. Er zeichnete seinen eigenen Klecks und hielt das Blatt dann dem Therapeuten hin, als wäre es eine Art Spiegel. Dann lächelte er. Als hätte er etwas Großartiges geleistet. Als die Sitzung vorbei war, schaute ich Morrow an und sah … Ich weiß nicht. Ich sah diese Distanz . Er hatte Angst vor dem Jungen.«
    »Aber Morrow musste doch schon vorher gewalttätige Patienten gehabt haben«, sagte Keller, seine Stimme ruhig und klar. »In Shining City musste es doch üblich gewesen sein, dass Kinder mit einer solchen Neigung herkamen.«
    »Nein«, sagte Bern rasch. »Nicht wie Charlie. Die anderen Jungen, selbst die mit gewalttätiger Vergangenheit – sie schauspielerten. Spielten eine Rolle. Aber bei Charlie hatte man das Gefühl, dass es real war. Er war von Geburt an geschädigt. Er war irgendwie umgedreht worden.«
    »Sie haben gesagt, dass er nur so getan hat, als wäre er stumm«, gab Alex dem Arzt als Stichwort. Sie wollte jetzt der Sache auf den Grund gehen und dann nichts wie raus aus dieser Anstalt. Sie begann allmählich zu verstehen, warum Aldiss sie in diese kleine private Hölle geschickt hatte, aber irgendein Puzzleteil war immer noch außer Reichweite.
    »Ja«, sagte er, sein Blick schweifte ab, und seine Stimme wurde leiser. »Das war drei Monate nachdem er nach Shining City kam. Sie hatten eine weitere Rorschach-Sitzung. Sie waren gerade fertig, da sah Charlie Morrow an und sagte etwas. Es war ein Wort – wir haben es beide gehört. Als der Junge den Raum verließ, kam Morrow zu mir, blass und erschüttert, und sagte: ›Haben Sie …?‹ Natürlich hatte ich.«
    »Aber das muss doch ein Durchbruch gewesen sein«, sagte Alex und erinnerte sich an Lydias Lob über den Arzt am Abend vorher. »Morrows Arbeit würde Charlie verändern. Ihn heilen.«
    »Nein«, sagte Bern schnell. »Das war es überhaupt nicht. Dieses Wort hatte etwas, etwas fast Spöttisches an sich. Damals bat Morrow darum, von dem Fall des Jungen abgezogen zu werden. Charlie hatte große Fortschritte gemacht, aber es stand außer Frage, dass Morrow zum allerersten Mal einen Patienten aufgab. Er wirkte vor allem erleichtert. Er war in den Kopf von Charlie Rutherford eingedrungen und hatte etwas wahrhaftig Hässliches gesehen. Obszönes. Er wollte hinaus.«
    »Haben Sie Charlie je wiedergesehen?«, fragte Keller.
    »Nein. Die Mutter des Jungen kam ein paar Wochen später und hat ihn aus Shining City herausgeholt. Ich habe gehört, dass sie allein in Hamlet lebt. Eine schöne Frau,

Weitere Kostenlose Bücher