Der Menschenspieler
DASS SIE DAS HIER GESEHEN HABEN .
Mit brodelndem Verstand ging Alex so natürlich wie möglich in der Bibliothek nach vorn und lieh die Biografie aus. Die unscheinbare Bibliothekarin schöpfte keinen Verdacht.
»Ihr Literaturstudenten«, sagte sie, »lernt immer so viel.«
Alex
Gegenwart
7
Der alte Mann, ihr vertrauter Freund, war erblindet. Er lebte nun zwischen seinen Büchern und den Erinnerungen des Colleges, an dem er einmal regierte. Über dem Walnussschreibtisch hing ein altes, verbogenes Foto von ihm mit einem früheren Präsidenten. Noch eines mit einem Nobelpreisträger, der schon lange tot war, die zwei Männer grinsten betrunken, ihre Socken waren hinuntergerutscht. Aber sein wertvollster Besitz war ein kindliches Puzzle, das auf ein dünnes Brett geklebt worden war und auf dem ein fragmentiertes und kubistisches Bild eines deformierten Männergesichts zu sehen war. Darunter eine Widmung: Meinem Freund Dekan Fisk, wir werden Fallows finden. Richard Aldiss. Das Puzzle trug das Datum 25. Dezember 1985. Aldiss hatte es im Gefängnis gemacht.
Alex ließ ihren Blick über den chaotischen Schreibtisch gleiten, streifte mit den Fingerspitzen über die vergilbten Papiere. Ihr Herz pochte in ihrer Brust, aber ansonsten war sie ruhig.
»Schrecklich«, sagte der alte Mann. Er saß in seinem Rollstuhl, hinten in einer schattigen Ecke, seine wässrigen Augen zuckten feucht. »Schrecklich, was unserem Michael passiert ist. Was unserem College passiert ist. Was tust du da hinten, Alex?«
Ihre Hände hielten inne. Ihr Gesicht wurde heiß.
»Nichts, Dekan Fisk«, sagte sie. »Ich schaue mir nur die Geschichte in diesem Zimmer an.«
Der Dekan atmete. Etwas näherte sich in der Dunkelheit, der Luftdruck im Raum sank, das kribbelnde Gefühl wie vor einem Kuss, einem Geheimnis stellte sich ein.
»Es existiert nicht«, sagte er.
Die Worte verwirrten sie. Sie hob ihren Blick vom Schreibtisch.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte sie schwach.
»Was auch immer du gehört hast, Alex, was auch immer man dir erzählt hat, du wirst das Manuskript nicht in diesem Haus finden.«
»Ich habe nichts gehört.« Es war anders, als Aldiss zu belügen; der Dekan war nicht mehr ganz da, sein Verstand war zu Brei geworden. Er war vierundneunzig Jahre alt und dahingesiecht. Sie sah ihn an, sah Spucke auf seinen papiergrauen Wangen glitzern. Der Vollzeitkrankenpfleger, ein Mann mittleren Alters, den sie bei ihrer Ankunft getroffen hatte, würde bald kommen, um ihn zu füttern.
»Diese alten gefälschten Stücke von Fallows – es ist vorbei, Alex«, fuhr Fisk fort. »Du hast ihnen während des Abendkurses ein Ende gesetzt. Du.«
»Natürlich«, sagte sie und dachte, aber Sie irren sich, Dekan. Es ist nie zu Ende .
Sie schwiegen, und ihr Blick wanderte instinktiv zum Schreibtisch. Sie sagte: »Ich habe heute Morgen Dr. Aldiss besucht. Er meint, wer auch immer das getan hat, hat die Dumant-Morde neu inszeniert.«
»Richard.« Fisk lachte. »Richard hat wahrscheinlich selbst Michael umgebracht.«
Sie war erstaunt. »Das glauben Sie doch nicht, oder? Das können Sie nicht. Es ist einfach nicht …«
Hinter ihr öffnete sich die Tür, und der Krankenpfleger trat ein. Ein blasser bedächtiger Mann, seine Bewegungen waren so präzise, dass sie kaum sah, wie seine Hände die Medikamente in den vogelartigen Mund des alten Mannes fallen ließen. Er drehte sich zu seinem Silbertablett um, das er auf dem Schreibtisch abgestellt hatte. Ein Essen wie für ein Kind: eine Scheibe Toast, Apfelmus. Fisk sah nach Art der Blinden durch seinen Pfleger hindurch und nickte entschlossen. »Danke schön, Matthew«, sagte er, und der Pfleger verließ das Zimmer, wobei sein Blick kurz auf Alex fiel.
Als er fort war, sagte Alex: »Dekan Fisk, sagen Sie mir, dass Sie nicht glauben, dass Professor Aldiss Michael ermordet hat. Ich weiß, dass Sie vor Jahren miteinander gebrochen haben, aber er war Ihr Freund. Ihr Vertrauter. Sie …« haben geholfen, ihn zu retten , wollte sie sagen.
Der alte Mann sah ins Leere und dachte nach. Dann sagte er völlig ohne Zusammenhang: »Sie spielen immer noch die Prozedur.«
Sie blinzelte: »Wer?«
»Die Studenten«, sagte er. »Ich höre sie auf dem Campus, wenn Matthew mich bei unseren Spaziergängen über den Bürgersteig schiebt. Ich kann sie hören.« Er schwieg, und sein raues Atmen füllte den Raum.
»Dekan Fisk, wegen Michael Tanner …«
Sein wandernder Blick ließ sie innehalten. »Wenn sie für die
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