Der Menschenspieler
einem schwarzen Mantel. Es schien nur logisch: Das Buch war ihr einziges Material im Seminar. Bis morgen kein Lehrplan, keine Handouts. Aldiss musste sie zu Die Windung leiten, das musste er einfach.
Als ihre Augen schließlich müde wurden, sah sie von der Seite zum Spiegel über dem Waschbecken auf. Es ist an der Zeit, aufzugeben und diesen Wahnsinn zu vergessen , dachte sie. Jemand anderes hat es inzwischen sicher schon gelöst, und wenn diese Person die Antwort weiß, werden wir neun alle …
Sie erstarrte.
Da. Im Spiegel. Ein Bild hinten auf dem Buch selbst.
Alex bewegte sich ganz langsam und drehte das Buch um.
Auf dem Buchrücken befand sich das traditionelle Autorenfoto. Es war ein Mann, von dem sie wusste, dass er nicht der echte Paul Fallows war. Zumindest konnte man nicht sicher sein, ob er es war oder nicht. Aus ebendiesem Grund wurde das Bild auch auf späteren Auflagen des Romans weiterhin abgedruckt: Niemand kannte die Identität des Autors, und so blieb dieser Lexikonvertreter.
Sie sah auf das Gesicht des Mannes. Auf seine zurückgekämmten Haare, das fast kalkulierte Lächeln. Darauf, wie seine Hände sich im Schoß überkreuzten. Und sie sah auf den dunklen Mantel, den er trug.
Wie heißt der Mann …?
Bevor sie sich dessen bewusst war, war Alex aus dem Badezimmer raus. Sie zog ihre Jeans und ihr Jasper-College-Sweatshirt an, setzte sich Merediths Wollmütze auf und verließ das Zimmer, so leise sie konnte, den Roman immer noch in der Hand. Mit dem Aufzug nach unten und raus aus Philbrick auf den gefrorenen Innenhof.
Nur der westliche Eingang der Stanley-M.-Fisk-Bibliothek war geöffnet. Alex tippte den Code ein und betrat die Wärme des Gebäudes. Die Nachtbibliothekarin war eine unscheinbare Frau namens Daws, die sich wie eine Figur aus einem Jane-Austen-Roman anzog. »Alexandra Shipley, was machen Sie …«
Aber Alex war schon an ihr vorbei und hinten in der Bibliothek, die, abgesehen von ein paar Zombies, die im Schein der Lampen lasen, leer war.
Hier hinten standen die Werke zur literarischen Kritik. Sie kannte den Ort in- und auswendig: Als sie neu in Jasper war, hatte sie sich durch die Bibliotheksregale gearbeitet, alle Ecken und Winkel kennengelernt.
Sie fand die berühmte Analyse Paul Fallows’ ganz am Ende des Regals, im roten Schein eines Notausgangsschilds, das die Seiten gerade genug erhellte, sodass sie lesen konnte. Das Buch hieß Gedankenspiele : Welt und Werke von Paul Fallows . Copyright 1979, erschienen bei Overland Press. Der Autor war Richard Aldiss, PhD. Er hatte das Buch drei Jahre vor den Morden in Dumant geschrieben.
Alex schlug den Index auf. Sie fand die Worte, nach denen sie suchte: AUTORENFOTO ( WAHRSCHEINLICH UNECHT ). Der Name des echten Lexikonvertreters, des Mannes auf dem Foto, lag ihr auf der Zunge. Sie wusste, dass Aldiss ihn an diesem Abend im Seminar erwähnt hatte . Verdammt, Alex, du musst besser aufpassen.
Jetzt schlug sie die entsprechende Seite auf und suchte in der nahezu völligen Dunkelheit nach dem Namen.
Aber etwas ließ sie innehalten. Etwas ließ sie dort, unter diesem blutigen Licht in der stillen und ruhigen Bibliothek, erstarren. Ihr Puls, der zuvor gerast hatte, verlangsamte sich merkwürdigerweise. Alex wurde ruhig. Der Schweiß unter ihren Armen und auf ihrem Kopf kühlte ab. Ihr ganzer Körper spannte sich an.
An den Rändern des Buchs befanden sich Anmerkungen.
Fieberhafte Bleistiftnotizen, Zahlen und Buchstaben vermischt, Symbole, die wie eine wahnsinnige, gequälte Sprache über die Seite wirbelten.
Was zum Teufel ist das?
Alex überflog den handgeschriebenen Text. Am Fuß der Seite sah sie ein paar lesbare Zeilen. Sie waren anders geschrieben als der Rest. Dunkler, in die Seite gepresst, fast gemeißelt. Eine kühle Handschrift. Die Handschrift von jemandem, der will, dass seine Nachricht entdeckt wird.
HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH ZUM FINDEN DIESER NACHRICHT . SIE SIND SCHON SEHR WEIT GEKOMMEN . JETZT MÜSSEN SIE DIESES BUCH AUSLEIHEN .
Alex überflog die nächste Seite, wo die wirre Schrift weiterging. Sie fand noch ein paar Zeilen, die in derselben gepressten Handschrift geschrieben waren.
Was sie als Nächstes las, würde Alex Shipleys Leben verändern.
RICHARD ALDISS IST UNSCHULDIG . UM DEN MANN ZU FINDEN , DER DIE ZWEI STUDENTINNEN IN DUMANT WIRKLICH ERMORDET HAT , MÜSSEN SIE ZUNÄCHST DIE WAHRE IDENTITÄT VON PAUL FALLOWS HERAUSFINDEN . DIE BEIDEN RÄTSEL SIND EIN UND DASSELBE . ERZÄHLEN SIE KEINEM MENSCHEN ,
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