Der Menschenspieler
erlitten hatte. Schrecklich. Es war alles seltsam und schrecklich, und Alex wusste nicht, warum sie sich überhaupt zu diesem Kurs angemeldet hatte.
Und doch …
Der Abendkurs war auch spannend. Und er war anders als alles, was sie je am Jasper College gemacht hatte. Die Chance zu haben, die Identität Paul Fallows’ zu enthüllen, egal wie unmöglich es klang, war die Art von Abenteuer, nach dem Alex sich sehnte. Sie wusste, dass sie wegen dieser bizarren Aufgabe bis zum Ende bei Aldiss und seinem Seminar bleiben würde, egal was geschehen würde.
Sie hatte die ersten fünfundsiebzig Seiten von Die Windung gelesen. Ihre Taschenbuchausgabe mit dem angeknacksten Rücken lag auf dem kleinen eingebauten Schreibtisch auf der anderen Seite des Zimmers, ein orangefarbener Sticker mit der Aufschrift GEBRAUCHT klebte auf dem Umschlag. Seit dem Anfang ihres zweiten Studienjahres war sie ein bisschen knapp bei Kasse. Es gab eine Zeit, in der Alex nur neue Bücher gekauft hatte und nie auf die Idee gekommen wäre, etwas an den Rand zu schreiben. Aber jetzt musste sie Geld für Harvard sparen, also waren gebrauchte Bücher die einzigen, die sie sich leisten konnte. Die Notizen anderer Studenten breiteten sich von den Textzeilen her aus, fraßen jeden leeren weißen Raum auf. Es wirkte auf sie wie eine Entweihung.
Ihre Mutter, die in der Stadt Darling, nur dreißig Meilen vom College entfernt, lebte, hatte sie davor gewarnt, Aldiss’ Seminar zu besuchen. Böse , hatte ihre Mutter gesagt. Der Mann, sein Seminar – alles war böse. Aber Alex wusste, dass Professor Richard Aldiss auch genial war. Sie hatte seine Gefängnisschriften über große amerikanische Schriftsteller gelesen und dort eine Klarheit gefunden, eine Verwandtschaft. Er sprach so über Bücher, wie sie sie empfand, als wären sie die wahrste Form der Kommunikation, sowohl primitiv als auch heilig. Er schrieb irgendwo, dass das Buch ein Schloss sei und der Leser der Schlüssel. Verdammt richtig , hatte Alex gedacht.
Heute Abend hatte sich jedoch etwas verändert.
Sie lag da, lauschte den Ausrufen und Geräuschen der Studenten im Collegehof und konnte nicht genau sagen, was es war. Konnte es nicht in Worte fassen. Die Vorstellung, dass Aldiss ihr Leben ändern würde, hatte sich in Luft aufgelöst, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Nicht dass sie nicht länger daran glaubte, von ihm erleuchtet zu werden, vielleicht schafften er und seine seltsamen Ideen über Literatur das. Es war bloß, dass er nicht so unbesiegbar war, wie sie einmal gedacht hatte. Nicht so schonungslos und elegant, wie seine Schriften es vermuten ließen. Der Mann auf dem Bildschirm hatte etwas … etwas fast Zerbrechliches. Etwas Verletzliches.
Hör dir nur selbst zu, Alex. Du wirst ganz rührselig wegen eines Mannes, der zwei Menschen kaltblütig ermordet hat.
Sie dachte an das Rätsel. Aldiss’ »Hausaufgabe«.
Wie heißt der Mann im dunklen Mantel?
Alex hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Die ersten Kapitel von Die Windung konzentrierten sich auf die New Yorker Gesellschaft um die Jahrhundertwende. Es war ein Roman im traditionellsten Wortsinn. Alex wusste, dass es verborgene Bedeutungen gab, nicht nur über die Erzählung, sondern angeblich auch über Fallows selbst, aber sie erkannte sie nicht. Das erste Mal, als sie an der Highschool den Klassiker gelesen hatte, hatte die Geschichte sie nicht berührt. Das ist alles?, hatte sie damals gedacht . All das Gewese wegen dieses Buchs?
Aber jetzt war da Richard Aldiss, der ihnen sagte, dass Fallows’ Romane gar keine Romane waren, sondern eigentlich Spiele. Spiele , hinter denen sich der Autor selbst versteckte. Und Aldiss war noch weiter gegangen, er hatte ihnen sogar einen Hinweis gegeben, der sie vielleicht … wie hatte er es genannt? Ja, ins Kaninchenloch führen würde.
Wie heißt der Mann im dunklen Mantel?
Name … dunkler Mantel … Spiele …
Alex sprang aus dem Bett. Ihre Zimmergenossin, ein Mädchen aus New Hampshire namens Meredith, das Chemie studierte, bewegte sich im oberen Bett. Ihr Verstand raste, und Alex nahm in der Dunkelheit ihre Ausgabe von Die Windung vom Schreibtisch. Dann ging sie in das kleine Badezimmer, das sich die beiden Mädchen teilten – ein Privileg, weil sie schon höhere Semester waren –, schloss die Tür hinter sich und schaltete das Licht über dem Spiegel an.
Sie blätterte den Roman durch, überflog die Seiten, bis die Wörter verschwammen, suchte nach einer Verbindung zu
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