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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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Bewusstsein.»
    «Ich halte das aus.»
    «Ihr Mann muss die anderen Körperteile einsammeln.» Er macht eine Pause, wieder hat er eine trockene Kehle. Er sammelt etwas Speichel im Mund und schluckt. Wie den rechten Ton finden für einen Satz wie den, den er nun aussprechen muss? «Sagen Sie ihm, er soll vier Plastiksäcke mitnehmen.»
    Da ist er also, der Augenblick, an den Oberleutnant Egitto sich besser erinnern wird als an alle anderen, das Bild, das ihm zuerst vor Augen stehen wird, wenn er an die Vorgänge im Tal zurückdenkt oder wenn er – ohne daran denken zu wollen – von einer blitzartigen Vision überfallen wird: der Black Hawk, der vom Boden abhebt und Staub aufwirbelt, die Soldaten im Sand.
    Torsu ist im Inneren des Hubschraubers schon in Sicherheit, den Kopf in der Halskrause aus Polyäthylen fixiert, den Körper mit elastischen Bändern festgeschnallt und die Infusion mit der Kochsalzlösung, die tropfenweise in den Arm läuft – Egitto hat die Infusion noch selbst gelegt. Er hat die Wunde abgetupft und mit Gaze verbunden, er hat sich vergewissert, dass die Wirbelsäule nicht verletzt ist. Torsu biss die Zähne zusammen, er stöhnte, es tut weh, Doc, es tut weh, ich bitte Sie, ich sehe nichts mehr, Doc. Er beruhigte ihn, es wird alles gut, wir bringen dich hier raus, du bist okay. Merkwürdig, dieselben Sätze, die wenige Minuten zuvor aus dem Funkgerät gekommen waren und an die er überhaupt nicht hatte glauben können. Warum sollte Torsu mehr Vertrauen haben? Es ist ihm gelungen, ihm die Schutzweste ausziehen, er hat den Körper nach weiteren Blutungen abgesucht, da waren nur Kratzer. Aber er wusste nicht, wie er die Verbrennungen im Gesicht behandeln sollte, ebenso wenig wie die weggerissene Wange oder die Augen. Er ist Orthopäde. Er kann einen Gips anlegen. Die vielen Vorlesungen an der Universität, die Übungen, die Lehrbücher und Fortbildungskurse, nichts hat ihm geholfen, auch die Konzentration nicht, nur seine Hände erinnerten sich an das, was zu tun war, und an die Reihenfolge, in der es zu tun war. Er hätte dem Soldaten Morphium spritzen sollen, aber vorerst schien der Schmerz erträglich zu sein. Vielleicht stand er nur unter Schock. Wie misst man das Leiden eines anderen menschlichen Wesens? Er hätte ihm Morphium geben müssen, er hatte Verbrennungen, verdammt noch mal! Aber jetzt ist es zu spät. Bevor er ihren Blicken entschwindet, hebt Torsu noch einmal den Arm zum Gruß für seine Kameraden und als letzte Botschaft für ihn: Ich bin noch am Leben, Doc.
    Torsu steigt zum Himmel auf, René wendet sich ab und schaut zum Gebirge hinüber. Mit einem Müllsack in den Händen streift Cederna um den ausgebrannten Lince herum, wie ein Pilzsammler. Kurz zuvor hat er René und Egitto wütend beiseitegestoßen, er wollte Ietris Leichnam allein tragen. Er hat ihn in den Arm genommen wie ein Kind (ein makabres Detail, an das Egitto sich nicht gern erinnert: Ietri war zu groß für die Kiste, sie mussten ihm die Knie anwinkeln; als man ihn viele Stunden später herausnahm, war er in dieser Position erstarrt, und um ihn wieder auszustrecken, musste man ihm die Gelenke brechen – das Geräusch der zerbrechenden kalten Knorpel sollte sich für immer seinem Gedächtnis einschreiben). Nachdem er ihn im Ambulanzwagen abgelegt hatte, wusch Cederna ihm das Gesicht mit Wasser aus der Feldflasche und sprach leise in sein Ohr. Eine Zeitverschwendung, die zu unterbinden der Oberleutnant nicht den Mut hatte.
    Das Tal ist still, die Motoren sind abgestellt. Viele Minuten verstreichen so. Ab und zu bückt sich Cederna, hebt etwas auf und steckt es in den schwarzen Sack oder wirft es weg.
    Dann ist da Feldwebel René, der, ohne sich umzudrehen und völlig unvermittelt, sagt: «Ich habe mich entschieden, Herr Oberleutnant. Ich will das Kind behalten. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich der Vater bin, aber ich will es behalten. Komme, was da wolle. Es wird jedenfalls ein schönes Kind.»
    Dann ist da Cederna vor einem Haufen menschlicher Überreste und Kleiderfetzen. Er bedeckt das Gesicht mit den Händen und fängt an zu schluchzen. «Wie soll ich sie denn wiedererkennen, verdammt noch mal? Sie sind völlig verkohlt, seht ihr das denn nicht? Sie sind völlig verkohlt, Scheiße!»
    Dann wird ein vernünftiges und zugleich empörendes Kriterium aufgestellt, Egitto schlägt es vor: «Machen wir es so, dass auf jedem Haufen zumindest ein intakter Körperteil liegt, egal, von wem. Es reicht, wenn die Haufen

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