Der menschliche Körper
Arsch treten.» Er zerknüllt das Blatt Papier, worauf er die Liste der Gefallenen notiert hatte, bereut es sogleich und streicht es mit der Handfläche glatt. «Ich erinnere mich an keines ihrer Gesichter. Arturo Simoncelli. Wer zum Teufel soll das sein? Vincenzo Mitrano. An den erinnere ich mich vage. Auch den hier glaube ich vor mir zu sehen: Salvatore Camporesi. Er war sehr groß. Finden Sie vielleicht, dass ich das sagen kann?
Wir trauern um unseren Freund Salvatore Camporesi, der sehr groß war
. Und diese zwei hier? Ietri und Mattioli. Von denen habe ich überhaupt keine Vorstellung. Vielleicht habe ich sie gar nie zu Gesicht bekommen. Hier in der FOB gibt es hundertneunzig Soldaten, Frau Doktor. Hundertneunzig Christenmenschen, die von mir und von meiner Laune beim Aufstehen abhängen, und ich habe mir nicht die Mühe gemacht, sie voneinander zu unterscheiden? Was sagen Sie dazu? Das ist interessant, finden Sie nicht auch? Mir erscheint es sehr interessant. Wollen Sie diese Information an Ihre Vorgesetzten weiterleiten? Tun Sie das nur, mir ist das ohnehin scheißegal.»
«Ich bitte Sie, Herr Oberst.»
«Sie sind alle gleich. Sagen Sie ihnen das auch. Oberst Giacomo Ballesio spricht über seine Männer so, Doppelpunkt Anführungszeichen,
Für mich sind alle gleich
. Einer ist gestorben statt eines anderen, ja und? Das macht überhaupt keinen Unterschied. Sagen Sie das Ihren verfluchten Vorgesetzten. Das macht überhaupt keinen Unterschied. Das waren bloß Jungs, die nicht wussten, was sie tun.»
Er ist hochrot im Gesicht. Irene ist bereit, seinen Ausbruch zu tolerieren, solange er sich nicht gegen sie richtet. Sie fragt sich, was geschehen würde, wenn sie die Äußerungen des Kommandanten im Ernst weiterleiten wollte. Was er hier abgibt, ist ein Statement, zwar unter dem Eindruck der Erschütterung, aber doch ein Statement und daher legitimes Beweismittel. Wird sie den Mut haben, es zu verwenden? Wenn man detaillierte Auskünfte über die FOB von ihr verlangt – und die wird man von ihr verlangen, nach dem, was vorgefallen ist, wird man alles von ihr wissen wollen –, wird sie auch das sagen? Wem würde das nützen außer ihrer professionellen Integrität? Sie zieht es vor, sich mit dieser Frage nicht so direkt auseinanderzusetzen. Es ist besser, der Kommandant lässt es dabei bewenden. Sie versucht ihn zu unterbrechen, aber das ist zwecklos.
«Wenn sie tot sind, dann, weil sie einen Fehler gemacht haben. Sie haben einen Fehler gemacht. Ich habe einen Fehler gemacht, indem ich sie da hinausgeschickt habe. Und Sie sind im Begriff, einen weiteren Fehler zu begehen, indem Sie in Ihrem Bericht Dinge schreiben, die der Wahrheit nicht einmal nahekommen, der Komplexität der Wahrheit. Denn Sie, Frau Doktor, sagen wir es doch ganz offen, verstehen nicht das Geringste von Krieg.»
Da, da kommen sie, die Anschuldigungen.
Ich will, dass es nachher kein Alibi für dich gibt.
Sie toleriert auch das noch, aber danach wird sie ihm den Rücken kehren und gehen.
«Es ist eine unendliche Kette von Fehlern, die Ihnen und mir vorausgehen, aber das rechtfertigt uns nicht.» Ballesios Stirn ist schweißbedeckt, die Hände aber hält er merkwürdig ruhig, die Handflächen auf den Tisch gelegt, wie eine Sphinx. «Wir tragen alle Schuld, Frau Doktor. Alle. Aber einige von uns … nun, die tragen viel mehr.»
Von oben, aus der Perspektive eines Hubschraubers betrachtet, sieht der Kreis von Fahrzeugen auf dem Talgrund aus wie ein magisches Symbol, ein Kreis, um die bösen Geister fernzuhalten. Es würde sich lohnen, das zu fotografieren, aber keiner tut es.
Für die im Lince sitzenden Soldaten ist der Ausblick weniger erfreulich: das Fahrzeugwrack, das an einigen Stellen noch brennt, verstümmelte, geköpfte und zerquetschte Schafe und der Obergefreite Torsu mit dem Leichnam des anderen auf ihm drauf.
Sie haben sich im Kreis aufgestellt, mit den Fahrzeugkühlern nach außen, um dem Verletzten Schutz zu bieten. Ein unangenehmes Manöver – einige mussten die toten Schafe überrollen – und unvorsichtig –, alle oder fast alle haben die vorgegebene Spur verlassen, sich der Gefahr aussetzend, auf weitere IED s zu treffen.
Während der Minuten, die verstreichen, nachdem die Schüsse aufgehört haben, nimmt Oberleutnant Egitto andere, weniger auffällige Details wahr. Sein Fenster ist blutbespritzt. Einige der Tiere, die orientierungslos herumlaufen, tragen Schnüre um den Hals. Und die Waffen der Toten sind wie
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