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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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erschöpft sind, um auch nur die Gewehre zu laden. Apathisch beobachten sie das Geschehen, als ob es sie nichts anginge. Die Aufständischen sind rasch zerstreut, die Fahrzeugkolonne kommt aus dem Tal heraus und findet sich in der grenzenlosen Ebene wieder.
    Im Ambulanzwagen liegt Ietris Leichnam, von einem Tuch bedeckt, das die Knöchel frei lässt. Abib zeigt sich überhaupt nicht beeindruckt, er hat sogar Gegenstände darauf abgelegt, als er in seinem Sack kramte und Ordnung darin machen wollte. Oberleutnant Egitto bemerkt einen süßlichen Geruch, der sich im Wagen ausbreitet und immer stärker wird. Ist es möglich, dass die Leiche schon angefangen hat zu verwesen? In der Regel setzt die Verwesung im Augenblick des Todes ein, aber der Gestank nicht, der dürfte erst später kommen. Vermutlich erliegt er einer makabren Sinnestäuschung.
    «Doc?», sagt René.
    «Ja?»
    «Glauben Sie, man verleiht uns eine Tapferkeitsmedaille? Für das, was wir getan haben?»
    «Ich weiß nicht. Vielleicht. Wenn Sie Wert darauf legen, kann ich Sie für eine Auszeichnung vorschlagen.»
    René hat die Beruhigungsmittel abgelehnt, die Egitto ihm angeboten hat. Dieser ist weniger mutig und hat zusammen mit dem Fläschchen Grappa aus der K-Ration eine doppelte Dosis seiner Pillen geschluckt. Die zerrissene Wirklichkeit hat wieder ihre zarten und gedämpften Töne angenommen.
    «Wenn jemand mir eine Nadel an die Brust heften will, dann benutze ich sie dazu, ihm die Augen auszustechen, Doc.»
    «Dann besser nicht.»
    «Nein. Besser nicht.»
    Sie kommen jetzt zügig voran. Die Staubwolke, die den Konvoi umgibt, ist wieder dicht, und soweit Egitto sehen kann, könnten sie auch allein unterwegs sein. Ein verwirrter Oberleutnant, ein völlig erschöpfter Feldwebel, ein betrügerischer Afghane und ein Toter inmitten einer gelben Nebelwand. «Haben Sie das mit dem Kind ernst gemeint?», fragt er.
    René zieht eine Zigarette aus dem Päckchen, das offen auf dem Armaturenbrett liegt. Er nimmt sie zwischen die schmutzigen Finger und zündet sie an. «Ich will ihm Motorradfahren beibringen. Vielleicht komme ich, wenn dieser Mist vorbei ist, hierher, und wir fahren Motocross. Können Sie sich das vorstellen? Ich möchte etwas Richtiges tun», wieder überkommt René die Rührung, Egitto beobachtet seinen Kampf, sie einzudämmen. «Fünf haben sie mir getötet. Fünf von siebenundzwanzig. Ist Ihnen klar, was das heißt?» Die Asche fällt in den Zwischenraum zwischen den beiden Sitzen. Das Innere des Ambulanzwagens ist zu einem Mülleimer geworden. «Vielleicht wird es ja ein Mädchen. Ich hätte gern ein Mädchen.»
     
    Um drei Uhr nachmittags erreichen sie die Ring Road und lassen die LKW s der Afghanen ziehen. Zum Dank gibt es ein Hupkonzert, das ist die ganze Anerkennung, die sie mit nach Hause nehmen können. Geht doch zum Teufel.
    Der Militärkonvoi fährt auf Asphaltstraßen bis zum Camp Delaram. Oberst Ballesio hat es so eingerichtet, dass die Jungs ein paar Tage bei den Marines zu Gast sind, Zeit, um sich ein wenig zu regenerieren.
    In einem riesigen Hangar gibt ein Hispano mit pockennarbigem Gesicht ihnen in seiner Sprache Instruktionen. Dann verteilt er Formulare zum Ausfüllen und Kopien mit den Verhaltensregeln im Camp. Es wird kein Alkohol getrunken. Es wird nicht geschrien. Es wird nicht geschossen. Es werden keine Fotos gemacht. Die Jungs zerknüllen die Papiere und stecken sie in die Tasche.
    Auch wenn die Kantine extra für sie eine Stunde länger offen bleibt und Köstlichkeiten zu bieten hat, an die sie nicht mehr gewöhnt sind, wie gezuckerte Getränke und eine Handbreit hohe Torten mit bunten Zuckergussverzierungen, machen wenige Gebrauch davon. Die meisten der Jungs flüchten sich unter die heiße Dusche, allein. Auch Oberleutnant Egitto. Er hält das Gesicht in den Wasserstrahl, bis es tiefrot ist, dann kratzt er sich mit den Fingernägeln am ganzen Körper, überall. Zusammen mit dem Schmutz laufen die Schuppen trockener Haut die Beine hinunter, wirbeln zweimal über dem Abfluss und verschwinden dann darin.

Ein Hubschrauber nimmt Ietris Leiche mit, und im Austausch dafür setzt er einen Militärpsychologen ab, der auf dem Landeplatz allen die Hand schüttelt und lächelt, als wäre er zu spät zu einem Fest gekommen. Er heißt Finizio, ist Korvettenkapitän, und wenn man ihn so sieht, wirkt er zu jung, um sich in die Psyche eines anderen hineinzuversetzen, die eigene mit eingeschlossen. Auf einem Auge schielt er ein wenig,

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