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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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verletzt ist? Bis hierher ist er gekommen, und jetzt ist er sich unsicher. «Halt durch», sagt er und meint damit vor allem sich selbst: Tu was!
    Der Feind nimmt ihn in aller Ruhe ins Visier. Er wird von mehreren Seiten gleichzeitig getroffen, ungefähr die gleiche Anzahl Kugeln von vorn und von hinten. Deshalb bleibt der Körper von Roberto Ietri, wenn auch hin und her geschüttelt, unerhört lang aufrecht stehen. Die Autopsie wird ergeben, dass die tödliche Kugel vom Schulterblatt in einer seltsamen Kurve ins Herz gedrungen ist, in die rechte Herzkammer. Schließlich klappt Ietri zusammen und fällt auf Torsu.
    In der Nacht mit den brennenden Feldern ist er auf dem Arm seines Vaters eingeschlafen, während sie zum Wagen zurückgingen. Nur selten war er so lang auf, aber am Morgen kroch er aus dem Bett, um der Mutter alles zu erzählen. Sie hörte ihm geduldig zu, auch beim dritten oder vierten Mal. Vielleicht war das nicht der letzte Gedanke, den der Obergefreite für den Augenblick des Todes vorgesehen hatte, aber alles in allem war er nicht so schlecht. Das Leben war nicht so schlecht gewesen.
    Torsu atmet wieder mühsam, unter dem Kameraden, der ihm aufs Brustbein drückt. Jetzt hat er Schüttelfrost, und er hat Angst zu sterben. Sein Gesicht fühlt sich seltsam an, als hätte man ihm Eis daraufgelegt. Er wimmert. Er hatte nicht gedacht, dass es so ausgehen würde, dass er sterben würde und alles ungelöst zurücklassen. Er hat sich so dumm benommen, im Allgemeinen, und im Besonderen Tersicore 89 gegenüber. Wem nützte denn diese ganze Wahrheit? Was machte das für einen Unterschied? Sie hatte ihn gern, sie hat ihn verstanden. Damit hätte er sich zufriedengeben sollen. Und jetzt, wo ist er gelandet? Eingequetscht unter der Leiche eines Freundes und ohne jemanden, dem man nachweinen könnte, ohne einen Namen, den man anrufen könnte. Bloß um sich weniger allein zu fühlen, umarmt der Obergefreite Angelo Torsu den leblosen Körper von Roberto Ietri. Er drückt ihn fest an sich. Er hat noch etwas von seiner Körperwärme behalten.

Oberst Ballesio hat alle wegtreten lassen außer ihr. Als die Untergebenen hinausgegangen waren, hat er mit dem Becken den Stuhl zurückgeschoben und die Stirn auf die gefalteten Hände gelegt. Er bewegte sich nicht mehr. Ob er wohl schläft? Gibt es etwas, was sie tun sollte? Sie könnte zu ihm hingehen und ihm eine Hand auf die Schulter legen, zum Beispiel. Undenkbar. Von solcher Vertraulichkeit ist ihre Beziehung weit entfernt.
    Und sie, Irene, wie fühlt sie sich? Zunächst erleichtert, denn auf der Liste der Gefallenen taucht Alessandros Name nicht auf. Natürlich ist sie benommen, aber der eigentliche Schrecken breitet sich erst langsam in ihr aus
. Du schickst Menschen in den Tod, Irene. Ich will, dass du dir dessen bewusst bist, bevor es geschieht, damit es nachher kein Alibi für dich gibt.
    Ballesio hat den Verlauf des Gefechts grob geschildert und die Liste der gefallenen Soldaten verlesen, mit Kunstpausen dazwischen: «Stabsgefreiter Simoncelli, Stabsgefreiter Camporesi. Obergefreiter Mattioli. Gefreiter Mitrano. Sie waren in dem Lince. Der Gefreite Ietri wurde von Schüssen aus Handwaffen getroffen. Der Verletzte ist Obergefreiter Torsu. Die Überlebenden stehen noch unter feindlichem Feuer. Und jetzt alle raus hier.»
    Bei jedem Namen entschlüpfte irgendjemandem ein Seufzer, ein Murmeln, ein Fluch: ein guter Gradmesser für die Beliebtheit der Opfer.
    Irene steht auf, füllt am Wasserbehälter einen Becher und trinkt in kleinen Schlucken. Sie füllt auch für den Kommandanten einen und stellt ihn auf den Schreibtisch neben seinen Kopf. Ballesio richtet sich auf. Er hat einen roten Striemen auf der Stirn, dort, wo sie auf den Händen auflag. Er stürzt das Wasser in einem Schluck hinunter, dann betrachtet er den halbtransparenten Kunststoffbecher.
    «Wissen Sie, was, Frau Doktor? Ich würde gern etwas Persönliches über diese Jungs zu sagen haben. Die Männer erwarten, dass ich heute Abend über ihre Kameraden zu ihnen spreche, dass ich eine Gedenkfeier für sie halte, wie eine Art Vater.»
Vater
sagt er mit Verachtung. «Jeder gute Kommandant ist dazu in der Lage. Wie ehrlich er war, wie tapfer, wie gut er mit Motoren umgehen konnte. Irgendeine bescheuerte Anekdote für jeden. Und sie haben recht. Aber wissen Sie, was die Wahrheit ist? Dass mir nichts einfällt. Ich bin nicht ihr Vater. Wenn ich Söhne hätte wie meine Soldaten, ich würde sie nur pausenlos in den

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