Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
Vom Netzwerk:
geschlafen).
    «Doc, wir brauchen Sie.»
    «Ja», aber er kann sich nicht aufrichten, und für einen Augenblick schläft er wieder ein.
    Eine Hand schüttelt ihn. «Doc!»
    «Ja.»
    «Kommen Sie mit.»
    Der Soldat stößt ihn vom Feldbett. Egitto ist nicht schnell genug, er kann weder das Gesicht noch den Dienstgrad erkennen. Er fährt sich mit den Händen fest durchs Gesicht, Hautschuppen fallen davon ab. Er schnappt sich die Hose auf dem Stuhl. «Was ist denn los?»
    «Einer von uns will nicht aus dem Bunker raus, Doc.»
    «Ist er verletzt?»
    «Nein.»
    «Was hat er dann?»
    Der Soldat zögert. «Nichts. Aber er will nicht raus.»
    Egitto schlüpft in die Socken. Sie sind voller Sand, die raue Innenseite scheuert an seinen Füßen. «Warum habt ihr mich gerufen?»
    «Wir wussten nicht, wen wir sonst rufen sollten.»
    «Von welcher Kompanie bist du?»
    «Charlie, Herr Oberleutnant.»
    «Gehen wir.»
    Der Sturm dauert noch an, hat aber nachgelassen, jetzt ist es kaum mehr als ein schmutziger Wind. Sie gehen vornübergebeugt und schützen die Augen mit den Händen.
    Der Junge kauert in der Mitte des Bunkers. Um ihn herum stehen ein paar Kameraden, und es ist klar, dass sie versuchen, ihn von etwas zu überzeugen: Als sie Egitto in den Tunnel eintreten sehen, grüßen sie ihn und gehen rasch auf der anderen Seite hinaus.
    Er gleicht einer schlappen Gliederpuppe, bei der man die Füllung herausgenommen und sie dann wieder zugenäht hat. Die Schultern hängen herunter, der Kopf ist auf die Brust gesunken. Egitto setzt sich ihm gegenüber hin. Als sie gingen, haben seine Kameraden die Taschenlampen mitgenommen, also muss er seine anknipsen. Er lehnt sie an die Betonwand. «Was ist los?»
    Der Soldat schweigt.
    «Ich habe dich etwas gefragt. Antworte deinem Vorgesetzten. Was ist los?»
    «Nichts, Herr Oberleutnant.»
    «Du willst nicht hinausgehen?»
    Der Soldat schüttelt den Kopf. Egitto liest den Namen auf der Brusttasche. «Du heißt Mitrano?»
    «Ja.»
    «Und weiter?»
    «Mitrano, Vincenzo, Herr Oberleutnant.»
    Der Junge atmet durch den Mund. Er muss stark geschwitzt haben, denn seine Wangen sind gerötet. Egitto stellt sich den Bunker vollgepfercht vor. Noch immer liegt starker Schweißgeruch in der Luft, vermischt mit einem anderen, weniger gut erkennbaren, dem Geruch, den viele aneinandergepresste Körper hervorbringen. Krise des Vagus-Nervs, denkt er. Panikattacke, Hypoxämie. Er fragt den Soldaten, ob ihm etwas Ähnliches schon einmal passiert sei, aber er verwendet nicht das Wort
Panik
, und auch nicht
Krise
, besser
Klaustrophobie
– das klingt unpersönlicher und macht nicht den Eindruck eines persönlichen Versäumnisses. Der Soldat antwortet, nein, er leide nicht an Klaustrophobie.
    «Dreht sich dir der Kopf im Augenblick?»
    «Nein.»
    «Verspürst du Übelkeit, Schwindel?»
    «Nein.»
    Egitto kommt ein Verdacht. «Du hast dir doch nicht …», und er zeigt auf die Leiste des Soldaten.
    Der schaut ihn entsetzt an. «Nein, Herr Oberleutnant.»
    «Das wäre keine Schande.»
    «Ich weiß.»
    «Das kann jedem mal passieren.»
    «Ist mir aber nicht passiert.»
    «Ist gut.»
    Verlegenheit macht sich breit. Egitto braucht Symptome, an die er sich halten kann. Anamnese, Diagnose, Behandlung: So geht ein Arzt vor, er kennt keine andere verlässliche Methode. Vielleicht hat der Soldat Angst gehabt, und das ist alles. Er versucht, ihm Mut zu machen: «Heute Nacht wird nicht mehr geschossen, Giuseppe.»
    «Ich heiße Vincenzo.»
    «Vincenzo, entschuldige.»
    «Ich habe es Ihnen eben gesagt, Vincenzo Mitrano.»
    «Du hast recht, Vincenzo. Heute Nacht wird nicht mehr geschossen.»
    «Ich weiß.»
    «Wir können rausgehen. Es ist sicher.»
    Der Soldat presst die Knie gegen die Brust. Die Haltung ist kindlich, aber der Blick nicht, der Blick ist der eines Erwachsenen.
    «Außerdem hat gar keine wirkliche Gefahr bestanden», insistiert Egitto. «Keine Granate hat innerhalb des Lagers eingeschlagen.»
    «Sie waren dicht dran.»
    «Nein, das waren sie nicht.»
    «Ich habe sie gehört. Sie waren nah.»
    Egitto beginnt ungeduldig zu werden. Trösten ist ein Gebiet, auf dem er sich nicht auskennt, ihm fehlen die geeigneten Worte. Mitrano seufzt. «Sie haben mich draußen gelassen, Doc.»
    «
Wer
hat dich draußen gelassen?»
    Der Soldat macht eine unbestimmte Kopfbewegung, dann schließt er die Augen. Man hört leises Reden wenige Schritte vom Bunker entfernt, seine Kameraden warten auf ihn. Egitto hört die Worte
etwas

Weitere Kostenlose Bücher