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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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Detonationen, gefolgt vom Abwehrfeuer der Maschinengewehre, ein Gurt nach dem anderen wird verfeuert. Der Feldwebel glaubt, einen violetten Blitz zu sehen, aber das ist vielleicht nur Einbildung. Zwei Spinnen an der Decke treffen sich, begutachten sich ein wenig, streifen sich mit den Beinen, dann laufen sie in verschiedenen Richtungen davon. Konzentrier dich!, sagt sich René. Einer seiner Männer ist allein im Zelt geblieben. Er gibt sich Mühe, das blasse und verschwitzte Gesicht Torsus aus seinem Gedächtnis zu streichen, den Klang seiner Stimme und die Erinnerung an die letzte gemeinsame Klettertour, als sie sich an einen Hirsch heranpirschten, sie beide allein. Jeden Mann, jeden Freund unpersönlich machen, das ist der Trick, die besonderen Merkmale und den Klang der Stimme löschen, sogar den Geruch, bis du imstande bist, ihn als bloßes Element zu behandeln. Vielleicht sollte er diese Methode auch für die Lösung jener anderen Angelegenheit anwenden. Jetzt ist aber nicht der Zeitpunkt, daran zu denken. Jetzt sind da die Explosionen. Lass dich nicht ablenken, Antonio. Hör nicht auf Zampieris keuchenden Atem. Beherrsch deine Angst. Betrachte die Tatsachen, nur die. Ein Soldat ist in Gefahr, aber nah genug an den äußeren Befestigungsanlagen, dass er einen gewissen Schutz genießt. Auf der anderen Seite wären fünf Männer in Bewegung und mindestens drei Minuten lang dem feindlichen Feuer ausgesetzt, wahrscheinlich länger. Vorgesetzter sein bedeutet, die Möglichkeiten abzuwägen, und René ist ein guter Vorgesetzter, er ist der geeignete Mann für diese Rolle. Als er seine Entscheidung bekannt gibt, ist er vollkommen davon überzeugt. «Wir bleiben hier», sagt er, «wir warten ab.»
     
    «Wie spät ist es?»
    «Zehn nach zwölf.»
    «Wir müssten hinausgehen und nachsehen.»
    «Sehr gut, geh du.»
    «Jetzt geh ich.»
    Aber er rührt sich nicht.
     
    Cederna denkt schon eine Weile nicht mehr an Mitrano, aber die Überlegungen von vorhin haben eine Spur schlechter Laune in ihm hinterlassen. Er erkennt keinen Sinn darin, eingepfercht herumzusitzen, während der Feind das Lager unter Beschuss nimmt. Man müsste rausgehen und sie abmurksen, alle miteinander, sie aufstöbern, haufenweise Bomben auf ihre versifften Verstecke werfen, das ist das verdiente Ende für einen, der als Feigling kämpft. Wenn er nur schon bei den Spezialeinheiten wäre. Mitten in der Nacht aufwachen, aus dreitausend Metern mit dem Fallschirm direkt in eine rote Zone abspringen, ein Dorf durchkämmen, die Terroristen aufstöbern, sie an Händen und Füßen fesseln und ihnen eine Kapuze überziehen. Und wenn dann irrtümlich ein Schuss losgeht und einen kaltmacht, umso besser.
    Im Bunker ist es warm, seine Beinmuskulatur ist steif. Er denkt an den Urlaub, an Agnese, er hat vor, sie sofort nach ihrem Examen zu entführen und mitzunehmen ans Meer, nach San Vito. Mit etwas Glück kann man dort im Oktober noch baden, aber auch bei schlechtem Wetter würden sie ihren Spaß haben, auf dem durchgelegenen Bett der Tante vögeln, bei offenen Gardinen, um sich von den Nachbarn zuschauen zu lassen. Das Haus in San Vito trägt den Geruch seiner Kindheit, der Ferien als Kind, und auch der Sex hat einen anderen Geschmack, wenn sie es dort treiben. Im Hof steht noch der verrostete Käfig, in dem die Tante ihre beiden exotischen Papageien hielt. Der Käfig war zu klein, und sie quälten sich gegenseitig mit Flügeln und Schnäbeln, unentwegt. Cederna hatte ihnen Namen gegeben, aber er erinnert sich nicht mehr – für die anderen in der Familie waren sie nur
die Papageien von Tante Mariella
. Die Vögel hatten alle enttäuscht, weil sie kein einziges Wort lernten, sie stießen nur kreischende Schreie aus, brachten die Zeit damit zu, den Käfig mit ihrem Kot zu verschmutzen und zu streiten, aber er mochte sie und hatte geweint, als sie im Abstand von wenigen Tagen einer nach dem anderen starben. Cederna schließt die Augen. Er versucht sich zu erinnern.
     
    Um vier Uhr morgens heult die Sirene wieder. Drei kurze, deutlich abgesetzte Töne, um Entwarnung zu geben. Zu dem Zeitpunkt schlafen viele der Jungs in dem Bunker, sie haben das Gefühl für Hunger und ihre überall schmerzenden Glieder verloren. Benommen und unkoordiniert kehren sie langsam in ihre jeweiligen Zelte zurück.
    Für Oberleutnant Egitto jedoch ist es noch nicht vorbei. Man weckt ihn, als er eben eingeschlafen ist (so scheint es ihm zumindest, in Wirklichkeit hat er über eine Stunde

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