Der menschliche Körper
zerbeißt er eine 100 -mg-Tablette Paracetamol, dann spült er sich den Mund aus. Ihm ist bewusst, welche Leberschäden eine Überdosis Paracetamol verursachen kann, aber das ist nicht der Moment, es damit so genau zu nehmen.
René hat einen weicheren Fahrstil als Camporesi, er weiß, wie man die Schlaglöcher anfährt, um die Stoßdämpfer nicht überzustrapazieren. Jetzt, da sie das dritte Fahrzeug in der Kolonne sind, haben sie weniger Staub vor sich, und man kann alles sehen. Der Feldwebel murmelt ihm einen Guten-morgengruß zu, dann schweigt er wieder, als wolle er auf sein langsames Erwachen Rücksicht nehmen. Im Gegensatz zu Egitto lässt René trotz der fast schlaflosen Nacht und der Wunde am Bauch kein Zeichen von Schwäche erkennen.
In wenigen Minuten sind sie durch Lartay durch, unversehrt.
«Und eins», sagt René und atmet heftig durch den Mund aus.
Egitto reicht ihm einen Energieriegel hinüber, der Feldwebel nimmt ihn. So feiern sie, während Abib sich lautstark die Nase putzt. Das Paracetamol erreicht seine maximale Wirkung und hat alle Gliederschmerzen sowie die Benommenheit der Erkältung weggenommen. Die samtige Ruhe der Medikamente, das ist etwas, worauf der Oberleutnant immer zählen kann.
Sie lassen Pusta hinter sich, Saydal umgehen sie, indem sie am Gebirgshang entlangfahren. Das sind keine strategischen Entscheidungen des Feldwebels: Alles, was sie tun können (und müssen), ist, der Spur der Fahrzeuge zu folgen, die ihnen vorausgefahren sind. Wo man auf dem Boden die Reifenspuren von Masieros Trupp erkennt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie keine Überraschungen erleben.
Um halb acht erblicken sie die Häusergruppe von Terikhay, das auf der Karte bedeutender aussah, während es kaum mehr ist als eine Alm. Sie gewinnen noch etwas an Höhe, bevor es wieder abwärtsgeht Richtung Flussbett. Sie sind an einer Stelle, wo sich das Tal plötzlich verengt wie eine Sanduhr, und da sehen sie das Spektakel.
Eine unüberschaubar große Herde von rötlichen Schafen versperrt die Durchfahrt, während von beiden Seiten noch mehr Schafe herbeiströmen. Sie stürzen auf ihren Hufen rutschend den Hang herunter: zwei Ströme von Tieren, die genau auf ihrem Weg zusammentreffen und ein wirbelndes Fellknäuel bilden. Die Schafe beschnuppern sich gegenseitig an ihren Hintern, von Zeit zu Zeit hebt eines den Kopf und schleudert ein schrilles Blöken zum Himmel.
Egitto ist überrascht von diesem Vitalitätsausbruch. «Wie viele werden es sein?», fragt er.
René antwortet nicht. Er hat bereits etwas verstanden, das dem Oberleutnant, abgelenkt von den Tieren oder von zu viel Serotonin im Hirn, entgangen ist. Der Feldwebel hat sich über das Lenkrad gebeugt und kaut auf seiner Oberlippe. «Da ist kein Schäfer», sagt er und nimmt das Fernglas, das am Sitz hängt. Er sucht die Gegend ab.
Es stimmt, da ist kein Schäfer dabei, da ist überhaupt niemand außer Hunderte von Schafen, sie scheinen wie direkt vom Berg ausgespuckt und laufen verschreckt vor etwas davon, was die Soldaten nicht sehen können.
«Wir müssen hier weg», sagt René.
Egitto bemerkt seine veränderte Gesichtsfarbe. «Und wie?», fragt er. «Wir sitzen fest.»
«Wir schießen.»
«Wir schießen auf die Schafe?»
Ein paar Meter von ihnen entfernt steht Torsu an der Browning und scheint sich zu amüsieren. Immer wieder verschwindet er durch die Luke im Fahrzeuginnern, taucht wieder auf und zeigt auf das Heer von Schafen. René nimmt das Funkgerät und ruft Cederna an den Apparat, der sich an der Spitze des Konvois befindet, aber die ironische Antwort des Kameraden – ein Blöken – wird vom Knall einer Panzerfaust übertönt, die hinter ihnen losgeht. Aus dem Augenwinkel sieht der Oberleutnant im Rückspiegel den Blitz. Danach nur schwarzen Qualm, der von einem der Fahrzeuge aufsteigt. Egitto hält die Luft an, während er herauszufinden sucht, welcher Wagen das war. Er ist erleichtert, als er bemerkt, dass es einer der LKW s mit den afghanischen Zivilisten ist. Erst sehr viel später wird er Gelegenheit haben, über diesen vorübergehenden Mangel an Menschlichkeit nachzudenken.
Was dann geschieht, bis zu dem Augenblick, als der von Salvatore Camporesi gelenkte Lince von zwanzig Kilo Sprengstoff in die Luft gejagt wird und es alle Insassen bis auf einen zerfetzt, der das Glück hat, einige Meter durch die Luft mitten unter die Schafe geschleudert zu werden, dauert drei, maximal vier Minuten.
Torsu, Di Salvo, Rovere und
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