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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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damals, als marxistisch orientierte Lycée-Schülerin, deren Empörung über Ungerechtigkeit zugegebenermaßen manchmal stärker gewesen war als ihre Vernunft, vielleicht nicht hätte bremsen lassen. Doch jetzt war sie eine Collegeprofessorin, die schon in jungen Jahren eine feste Anstellung bekommen hatte, die bereits ihre eigene Abteilung leitete und die gewiss eines Tages nach Princeton, Columbia, Cornell oder Chicago weiterziehen würde, vielleicht sogar im Triumph wieder zurück nach Yale. Wenn Coleman Silk einen Brief wie diesen, mit ihrer Unterschrift, weiterreichte, bis er seinen Weg zu einem Menschen fand, der ihr schaden wollte, aus Neid, aus Abneigung oder einfach weil sie zu jung und zu verdammt erfolgreich war ... Ja, so kühn und geradeheraus und voller unverhüllter Wut dieser Brief auch war - Coleman Silk würde ihn benutzen, um sich über sie zu mokieren und um zu zeigen, dass es ihr an Reife mangelte und sie nicht geeignet war, irgendeine leitende Position zu bekleiden. Er hatte die Verbindungen, er kannte noch immer viele Leute - er war noch immer dazu imstande. Er würde es tun, er würde den wahren Sinn des Briefes so entstellen ...
    Rasch zerriss sie den Brief in kleine Fetzen und schrieb mit einem roten Kugelschreiber, den sie normalerweise niemals für einen Brief benutzte, in großen Druckbuchstaben, die niemand als die ihren erkennen würde, in die Mitte eines neuen Blatts:
    Jeder weiß.
    Aber das war alles. Sie hielt inne. Drei Nächte später stand sie, wenige Minuten nachdem sie das Licht ausgeschaltet hatte, noch einmal auf, schüttelte die Benommenheit ab, ging zum Schreibtisch, zerknüllte das Blatt, auf dem »Jeder weiß« stand, und warf es weg. Dann beugte sie sich über den Tisch - sie fürchtete, sie könnte in der Zeit, die sie brauchte, um sich zu setzen, ihre Beherztheit wieder verlieren - und schrieb in einem Zug diese und fünfzehn weitere Wörter, denen er würde entnehmen können, dass seine Bloßstellung unmittelbar bevorstand. Der Umschlag wurde adressiert und mit einer Briefmarke versehen, der ununterschriebene Brief hineingesteckt, die Schreibtischlampe ausgeschaltet, und dann lag Delphine, erleichtert über ihre Entscheidung, das Enthüllendste getan zu haben, was angesichts der praktischen Beschränkungen in ihrer Situation möglich war, wieder im Bett und war moralisch gerüstet, tief und fest zu schlafen.
    Zunächst aber musste sie den Impuls unterdrücken, der sie trieb, wieder aufzustehen, den Briefumschlag aufzureißen und noch einmal zu lesen, was sie geschrieben hatte, um zu sehen, ob sie zu wenig gesagt hatte oder ob sie sich zu zaghaft - oder zu scharf - ausgedrückt hatte. Selbstverständlich war das nicht ihre Ausdrucksweise. Das konnte es gar nicht sein. Deswegen hatte sie sich ihrer ja auch bedient - die Formulierung war zu krass, zu vulgär, hatte viel zu viel Ähnlichkeit mit einem Slogan, um zu ihr zurückverfolgt werden zu können. Aber aus genau diesem Grund war die Wortwahl von ihr möglicherweise falsch eingeschätzt worden und wirkte nicht überzeugend. Sie musste noch einmal aufstehen und nachsehen, ob sie daran gedacht hatte, ihre Schrift zu verstellen - sie musste nachsehen, ob sie vielleicht unabsichtlich, ganz gefangen vom Augenblick und überwältigt von der Hitze der Wut, alle Verstellung vergessen und mit ihrem Namen unterschrieben hatte. Sie musste nachsehen, ob sie durch irgendeine Nachlässigkeit verraten hatte, wer sie war. Und wenn? Eigentlich sollte sie den Brief unterschreiben. Ihr ganzes Leben war ein Kampf darum gewesen, sich nicht von den Coleman Silks einschüchtern zu lassen, von diesen Menschen, die ihre Privilegien gebrauchten, um andere klein zu halten, und nur taten, was sie wollten. Zu Männern zu sprechen. Männern zu widersprechen. Selbst weit älteren Männern. Zu lernen, vor ihrer angemaßten Autorität oder ihren weisen Sprüchen keine Angst zu haben. Herauszufinden, dass ihre eigene Intelligenz tatsächlich Gewicht hatte. Zu wagen, sich ihnen als ebenbürtig zu betrachten. Zu lernen, dem Impuls zur Kapitulation zu widerstehen, wenn sie ein Argument vorgebracht hatte, das nicht stichhaltig genug gewesen war, zu lernen, Logik, Selbstvertrauen und Coolness zu mobilisieren und weiter zu argumentieren, ganz gleich, was sie sagten oder taten, um sie zum Schweigen zu bringen. Zu lernen, nicht einzuknicken, sondern sich anzustrengen und auch den zweiten Schritt zu tun. Zu lernen, ihre Sache zu vertreten, ohne auszuweichen .

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