Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
Vom Netzwerk:
Sie brauchte sich ihm nicht zu fügen, sie brauchte sich niemandem zu fügen. Er war nicht mehr der Dekan, der sie eingestellt hatte. Und auch nicht mehr der Leiter der Abteilung. Das war jetzt sie. Dekan Silk war jetzt ein Niemand. Eigentlich sollte sie den Umschlag tatsächlich wieder öffnen und den Brief unterschreiben. Er war ein Niemand. Das Wort war so tröstlich wie ein Mantra.
    Wochenlang trug sie den verschlossenen Brief in ihrer Handtasche mit sich herum und erwog die Gründe, die dafür sprachen, ihn nicht nur abzuschicken, sondern auch zu unterschreiben. Er wendet sich dieser gebrochenen Frau zu, die sich in keiner Weise wehren kann. Die ihm nicht mal ansatzweise gewachsen ist. Die in intellektueller Hinsicht nicht einmal existiert. Er wendet sich einer Frau zu, die sich noch nie gewehrt hat, die sich gar nicht wehren kann , der schwächsten Frau der Welt, die ihm in allen Bereichen unterlegen ist - er wendet sich ihr aus dem allerdurchsichtigsten antithetischen Grund zu: weil er sich allen Frauen überlegen fühlt und weil er vor jeder intelligenten Frau Angst hat. Weil ich den Mund aufmache, weil ich mich nicht einschüchtern lasse, weil ich erfolgreich bin, weil ich attraktiv bin, weil ich selbstständig denke, weil ich eine erstklassige Ausbildung habe, weil ich erstklassige Zeugnisse habe ...
    Und dann, als sie eines Samstags nach New York gefahren war, um sich die Jackson-Pollock-Ausstellung anzusehen, zog sie den Umschlag aus der Handtasche und hätte den siebzehn Wörter langen Brief um ein Haar ununterschrieben in einen Briefkasten im Port-Authority-Gebäude gesteckt, den ersten, den sie sah, als sie aus dem Bonanza-Bus stieg. In der U-Bahn hielt sie ihn noch immer in der Hand, doch als der Zug sich in Bewegung setzte, vergaß sie ihn, steckte ihn wieder in die Handtasche und machte sich empfänglich für die Bedeutsamkeit der U-Bahn. Die New Yorker U-Bahn erstaunte und faszinierte sie nach wie vor. Wenn sie in Paris mit der Metro fuhr, dachte sie nicht weiter darüber nach, doch die melancholische Qual der Menschen in der New Yorker U-Bahn bestätigte sie jedes Mal in der Ansicht, dass es richtig gewesen war, nach Amerika zu kommen. Die New Yorker U-Bahn war ein Symbol für den Grund, warum Delphine hierhergekommen war: ihre Weigerung, vor der Realität zurückzuweichen.
    Die Pollock-Ausstellung nahm sie emotional so gefangen, dass sie, als sie von einem überwältigenden Gemälde zum nächsten ging, etwas von dem schwellenden, lärmenden Gefühl verspürte, das das manische Ziel der Lust ist. Als plötzlich das Handy einer Frau zirpte, während das ganze Chaos des Gemäldes mit dem Titel Number 1 A, 1948 ungestüm in den Raum eindrang, der früher an diesem Tag - früher in diesem Jahr - nichts weiter als ihr Körper gewesen war, wurde sie so wütend, dass sie herumfuhr und rief: »Madam, ich würde Sie am liebsten erwürgen!«
    Dann ging sie zur New York Public Library in der Fortysecond Street. Das tat sie immer, wenn sie in New York war. Sie besuchte Museen, Galerien und Konzerte, sie sah sich Filme an, die niemals bis in das grässliche Kino im hinterwäldlerischen Thema schaffen würden, und schließlich landete sie, ganz gleich welche konkreten Gründe sie gehabt hatte, nach New York zu fahren, immer im Hauptlesesaal der Bibliothek und las etwa eine Stunde lang in einem mitgebrachten Buch.
    Sie liest. Sie sieht sich um. Sie beobachtet. Sie verliebt sich ein bisschen in manche Männer. In Paris hat sie bei einem Filmfestival den Marathon-Mann gesehen. (Niemand weiß, dass sie im Kino schrecklich sentimental wird und oft weint.) Im Marathon-Mann gibt es eine Figur, eine falsche Studentin, die im Lesesaal der Public Library sitzt und von Dustin Hoffman angemacht wird, und seither sieht sie diesen Ort in einem romantischen Licht. Bis jetzt hat dort noch niemand versucht, sie anzumachen, nur ein Medizinstudent, der zu jung und unerfahren war und gleich das Falsche sagte, irgendetwas über ihren Akzent - sie fand ihn unerträglich. Ein Junge, der noch gar nicht richtig gelebt hatte. Er gab ihr das Gefühl, eine Großmutter zu sein. In seinem Alter hatte sie schon so viele Liebesaffären und so viel Nachdenken und noch einmal Nachdenken, so viele Grade des Schmerzes hinter sich gehabt - mit Zwanzig, als sie jünger gewesen war als dieses Bürschchen, hatte sie ihre große Liebesgeschichte bereits nicht bloß einmal, sondern sogar zweimal erlebt. Teilweise ist sie nach Amerika gekommen, um ihrer

Weitere Kostenlose Bücher