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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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morgen, und kein Mensch erwartet das von dir. Aber es ist Zeit, dass du dein Programm in Angriff nimmst. Es ist soweit. Wir fangen nicht mit der Wand an. Wir fangen ganz langsam an. Wir fangen mit einem chinesischen Restaurant an.«
    Für Les war das allerdings kein langsamer Anfang; sogar beim Imbissrestaurant in Athena hatte er im Wagen warten müssen, während Faunia das Essen holte. Wenn er hineingegangen wäre, hätte er die Schlitzaugen hinter der Theke umbringen wollen. »Aber das sind keine Vietnamesen, sondern Chinesen«, hatte Faunia gesagt. »Scheiß drauf! Mir doch scheißegal, was die sind! Die sind Schlitzaugen! Ein Schlitzauge ist ein Schlitzauge!«
    Als hätte er in den letzten sechsundzwanzig Jahren nicht schlecht genug geschlafen, schlief er in der Woche vor dem Besuch im chinesischen Restaurant überhaupt nicht. Er rief Louie etwa fünfzigmal an, um ihm zu sagen, er könne nicht mitkommen, und gut die Hälfte dieser Anrufe kam nach drei Uhr morgens. Doch ganz gleich, wie früh oder spät es war - Louie hörte sich alles an, was er auf dem Herzen hatte, er stimmte ihm sogar zu und brummte geduldig »Mh-hm ... mh- hm ... mh-hm ...«, aber am Ende des Gesprächs würgte er immer alle Einwände mit den Worten ab: »Du brauchst nur da zu sitzen, Les, so gut du kannst. Mehr nicht. Was immer dich packt, ob es Traurigkeit ist oder ob es Ärger ist, was immer es ist - Hass oder Wut -, wir werden bei dir sein, und du wirst versuchen, das durchzustehen, ohne wegzurennen oder irgendwas zu tun.« »Aber der Ober«, sagte Les dann. »Wie soll ich mit dem verdammten Ober klarkommen? Ich kann das nicht, Lou - ich werde ausrasten.« »Mit dem Ober rede ich. Du brauchst nur da zu sitzen.« Auf alle Einwände, die Les vorbrachte, einschließlich der Befürchtung, er werde vielleicht den Ober umbringen, antwortete Louie, er brauche bloß auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben. Als wäre das - auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben - alles, was es brauchte, um einen Mann davon abzuhalten, seinen schlimmsten Feind zu töten.
    Sie waren zu fünft, als sie eines Abends, kaum zwei Wochen nach Les' Entlassung aus dem Krankenhaus, in Louies Kleinbus nach Blackwell fuhren. Da war - kahl, glatt rasiert, ordentlich gekleidet, in frisch gebügelten Sachen, mit schwarzem Vietnam-Veteranen-Schiffchen und Gehstock - der Mutter-Vater-Bruder-Führer Louie, der mit seiner kleinen Statur, den hängenden Schultern und dem hohen Schmerbauch ein bisschen an einen Pinguin erinnerte, auch deshalb, weil er schlecht verheilte Beine und daher einen steifen Gang hatte. Dann die beiden großen Typen, die nie viel sagten: Chet, der frühere Marine und dreimal geschiedene Anstreicher - drei Frauen hatten vor diesem ungeschlachten, unzugänglichen Kerl mit Pferdeschwanz, der nie das Bedürfnis zeigte, sich irgendwie zu äußern, eine Heidenangst bekommen -, und Bobcat, ein ehemaliger Schütze, der durch eine Tretmine einen Fuß verloren hatte und bei Midas Muffler arbeitete. Und schließlich noch ein unterernährter komischer Kauz, ein magerer, zappeliger Asthmatiker, der fast keine Backenzähne mehr hatte und sich Swift nannte. Nach der Entlassung aus der Army hatte er seinen Namen amtlich ändern lassen, als würde die Tatsache, dass er nicht mehr Joe Brown oder Bill Green hieß, oder wie immer er geheißen hatte, als er eingezogen worden war, ihn zu Hause jeden Tag vor Freude aus dem Bett springen lassen. Seit Vietnam war Swifts Gesundheit durch alle Arten von Haut-, Lungen- und Nervenkrankheiten so gut wie ruiniert, und jetzt nagte an ihm ein Hass auf die Golfkriegsveteranen, der sogar Les' Abneigung überstieg. Den ganzen Weg nach Blackwell, als Les bereits ein flaues Gefühl im Bauch hatte und anfing zu zittern, machte Swift das Schweigen der beiden großen Kerle mehr als wett. Er redete und redete mit keuchender Stimme. »Ihr größtes Problem ist, dass sie nicht an den Strand gehen können? Sie kriegen am Strand die Motten, wenn sie den Sand sehen? Tja, Scheiße. Wochenendsoldaten, und auf einmal müssen sie in einen richtigen Krieg. Darum sind sie so sauer: Sie waren in der Reserve und haben gedacht, sie kämen nie dran, und dann sind sie doch drangekommen. Und dabei haben sie nicht mal ihren Arsch hinhalten müssen. Die wissen ja gar nicht, was ein Krieg ist. Das soll ein Krieg gewesen sein? Vier Tage Bodenkrieg? Wie viele Araber haben sie denn gekillt? Jetzt regen sie sich auf, weil sie Saddam Hussein nicht erwischt haben. Sie haben einen

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