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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Ausgezeichnet.«
    Das Harmony Palace war spärlich beleuchtet. Entlang der Wände standen hier und da künstliche Pflanzen, und in dem lang gestreckten Saal waren etwa fünfzig Tische aufgereiht. Nur einige davon waren besetzt, alle so weit entfernt, dass die anderen Gäste die kurze Störung an dem Tisch, wo die fünf Männer saßen, nicht bemerkt zu haben schienen. Zur Sicherheit ließ sich Louie beim Betreten des Restaurants von Henry immer einen Tisch mit ausreichendem Abstand zu den anderen Gästen geben. Er und Henry erlebten das hier nicht zum ersten Mal.
    »Okay, Les, wir haben alles im Griff. Du kannst die Speisekarte jetzt loslassen. Lass die Speisekarte los, Les. Erst die rechte Hand. Jetzt die linke. Sehr gut. Chet wird sie für dich zusammenfalten.«
    Chet und Bobcat, die beiden großen Männer, waren rechts und links von Les platziert. Sie waren von Louie für heute Abend zu Militärpolizisten ernannt worden und wussten, was sie zu tun hatten, falls Les eine falsche Bewegung machte. Swift saß auf der anderen Seite des runden Tisches, neben Louie, der direkt gegenüber von Les Platz genommen hatte, und sagte im geduldigen Tonfall eines Vaters, der seinem Sohn das Fahrradfahren beibringt: »Ich weiß noch, wie ich das erste Mal hier war. Ich dachte, ich würde es nie schaffen. Du machst das wirklich gut. Als ich das erste Mal hier war, konnte ich nicht mal die Speisekarte lesen. Die Buchstaben sind mir vor den Augen verschwommen. Ich war drauf und dran, durch das Fenster zu springen. Zwei von den Jungs mussten mit mir rausgehen, weil ich nicht still sitzen konnte. Du machst das richtig gut, Les.« Wäre Les imstande gewesen, auf etwas anderes als das Zittern seiner Hände zu achten, dann wäre ihm aufgefallen, dass er Swift noch nie anders als zuckend und zappelnd erlebt hatte. Zappelnd und zeternd. Darum hatte Louie ihn mitgenommen: weil es auf dieser Welt anscheinend nichts gab, was Swift besser konnte, als jemandem zu helfen, ein chinesisches Essen durchzustehen. Hier, im Harmony Palace und nirgendwo sonst, schien Swift sich für eine Weile daran zu erinnern, wie es in der Welt zuging. Hier ahnte man nur schwach, dass er sonst jemand war, der auf Händen und Knien durchs Leben kroch. Hier offenbarte sich in dieser verbitterten, leidenden Ruine von einem Mann ein winziges, zerfleddertes Stück von dem, was einst Mut gewesen war. »Du machst das richtig gut, Les. Du machst das ganz prima. Aber du solltest unbedingt ein bisschen Tee trinken«, schlug Swift vor. »Lass dir von Chet was einschenken.«
    »Atmen«, sagte Louie. »Genau. Atmen, Les. Wenn du nach der Suppe nicht weitermachen kannst, gehen wir wieder. Aber die Suppe musst du schaffen. Es ist völlig in Ordnung, wenn du das zweimal gebratene Schweinefleisch nicht schaffst. Aber die Suppe musst du schaffen. Lass uns ein Codewort ausmachen für den Fall, dass du rausmusst. Ein Codewort, das du mir sagst, wenn nichts mehr geht. Wie war's mit ›Teeblatt‹? Du brauchst nur ›Teeblatt‹ zu sagen, und wir verschwinden von hier. Teeblatt. Wenn es nicht mehr geht, sagst du das Codewort. Aber nur, wenn es nicht mehr geht.«
    Der Ober war mit dem Tablett, auf dem die fünf Schalen mit ihren Suppen standen, in einiger Entfernung stehen geblieben. Chet und Bobcat sprangen auf, nahmen ihm das Tablett ab und brachten es zum Tisch.
    Les würde am liebsten »Teeblatt« sagen und sich von hier verpissen. Warum tut er es nicht? Ich muss hier raus. Ich muss hier raus.
    Indem er in Gedanken ständig wiederholt: »Ich muss hier raus«, gelingt es ihm, sich in eine Trance zu versetzen und - obgleich er überhaupt keinen Appetit hat - anzufangen, die Suppe zu essen. Ein paar Löffel Suppe zu essen. »Ich muss hier raus«, und das blendet den Ober und den Besitzer aus, aber nicht die beiden Frauen, die an einem Tisch an der Wand sitzen und Erbsen palen und die gepalten Erbsen in einen Kochtopf werfen. Zehn Meter entfernt, aber Les kann riechen, welch billiges Parfüm sie sich hinter ihre vier gelben Ohren geschmiert haben - der Geruch ist für ihn so durchdringend wie der von feuchter Erde. Mit demselben phänomenalen, lebensrettenden Geruchssinn, der es ihm ermöglicht hat, die Schweißausdünstungen eines lautlosen Scharfschützen im stockfinsteren Dickicht des vietnamesischen Dschungels wahrzunehmen, fängt er jetzt den Geruch der beiden Frauen auf und merkt, dass er den Boden unter den Füßen verliert. Niemand hat ihm gesagt, dass hier Frauen sein würden, die

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