Der menschliche Makel
sie die Lüge gar nicht erst in die Welt setzen können. Doch sein Tod ist ihr Glück. Sein Tod ist ihre Rettung. Der Tod greift ein und vereinfacht alles. Jeder Zweifel, jedes Unbehagen, jede Unsicherheit wird beiseite gefegt vom größten Verkleinerer, den es gibt: vom Tod.
Als ich nach Faunias Beerdigung allein zu meinem Wagen zurückging, wusste ich noch immer nicht, wer auf dem College die Geisteshaltung besaß, die nötig war, um sich diesen Klytaimnestra-Beitrag auszudenken - das Online-Kunstwerk ist die diabolischste Kunstform, weil es anonym ist -, und ich hatte auch keine Ahnung, was jemand, irgendjemand, sich als nächstes ausdenken würde, um es anonym in die Welt zu setzen. Ich wusste nur, dass der Keim des Bösen freigesetzt worden war, und was Colemans Verhalten betraf, so gab es keine absurde Unterstellung, aus der nicht irgendjemand versuchen würde, eine Empörung zu destillieren. In Athena war eine Epidemie ausgebrochen - das waren meine Gedanken unmittelbar nach seinem Tod -, und wie sollte man ihre Ausbreitung verhindern? Sie war bereits da. Die Erreger waren da. Im Äther. Auf der universalen Festplatte, unzerstörbar und unauslöschlich, das Zeichen der Bösartigkeit des Menschen.
Jeder war jetzt dabei, Dunkle Gestalten zu schreiben - jeder außer mir.
Ich will euch bitten [begann der Beitrag im fac.discuss-Forum], über Dinge nachzudenken, über die nachzudenken nicht angenehm ist. Nicht nur über den gewaltsamen Tod einer unschuldigen Frau von vierunddreißig Jahren - etwas, was an sich schon schlimm genug ist -, sondern auch über die Umstände dieses schrecklichen Ereignisses und über den Mann, der diese Umstände fast kunstvoll herbeigeführt hat, um seinen Rachefeldzug gegen das Athena College und seine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen zu vollenden.
Einige von euch werden bereits wissen, dass Coleman Silk sich wenige Stunden bevor er diesen Mord und Selbstmord inszenierte - denn genau das war es, was dieser Mann verübte, als er seinen Wagen durch die Leitplanke und in den Fluss steuerte -, gewaltsam Zugang zum Büro einer Dozentin in Barton Hall verschafft hatte, wo er Unterlagen durchwühlte und eine E-Mail verschickte, die angeblich von dieser Dozentin verfasst war, jedoch darauf abzielte, ihre Stellung zu gefährden. Der Schaden, den er ihr und dem College damit zugefügt hat, ist sehr gering. Doch hinter diesem Einbruch und der kindisch gehässigen Fälschung steckte derselbe Entschluss, dieselbe Absicht, die ihn später in dieser Nacht - ins Monströse vergrößert - dazu trieb, sich selbst zu töten und dabei zugleich kaltblütig eine Raumpflegerin des Colleges umzubringen, die er einige Monate zuvor zynisch dazu gebracht hatte, ihm sexuell zu Diensten zu sein.
Stellt euch das Martyrium dieser Frau vor, die im Alter von vierzehn Jahren von zu Hause fortgelaufen war, deren Schulbildung im zweiten Jahr auf der Highschool geendet hatte und die für den Rest ihres kurzen Lebens praktisch eine Analphabetin war. Stellt euch vor, wie sie den Schlichen dieses Collegeprofessors im Ruhestand ausgesetzt war, der in den sechzehn Jahren, in denen er das Amt des Dekans überaus autokratisch ausgeübt hat, mehr Macht besaß als der Rektor. Wie konnte sie sich seiner überlegenen Kraft widersetzen? Und wie konnte sie, nachdem sie sich ihm gefügt hatte, nachdem sie von einer perversen männlichen Macht, weit größer als die ihre, versklavt worden war, auch nur ahnen, für welche rachsüchtigen Zwecke er ihren geschundenen Körper einsetzen wollte, erst im Leben und dann im Tod?
Unter all den skrupellosen Männern, von denen sie tyrannisiert worden war, unter all den gewalttätigen, rücksichtslosen, skrupellosen, unersättlichen Männern, die sie gequält, geschlagen und gebrochen hatten, war keiner, dessen Absichten so von gnadenloser Feindschaft pervertiert waren wie die des Mannes, der mit dem Athena College abrechnen wollte und daher eine Angestellte dieses Colleges aussuchte, um auf die deutlichste Weise, die ihm zu Gebote stand, Rache zu üben. An ihrem Körper. An ihren Gliedern. An ihren Geschlechtsorganen. An ihrem Schoß. Die schändliche Abtreibung, die er ihr vor einigen Monaten aufzwang - und die ihrem Selbstmordversuch voranging -, war nur einer von wer weiß wie vielen Angriffen auf das verwüstete Gebiet ihres Körpers. Wir kennen inzwischen das grässliche Tableau dieses Mordes, wir wissen von der pornografischen Stellung, in der er Faunia in den Tod gehen ließ, um
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